Der Schweizer Kipp-Moment
Fast überall gilt bei Wahlen: "It's the economy, stupid! – Es ist die Wirtschaft, Dummkopf!" Läuft diese, profitiert die Regierung. Läuft sie nicht, jubelt die Opposition. In der Schweiz gilt diese Regel nicht. Dafür ist das Land zu reich. Doch eine Regel gibt es. Sie hat sehr viel mit Europa zu tun.
Blüht die Konjunktur, werden Regierungsparteien gestärkt. Herrscht Rezession, kommt die Opposition zum Zug. Brüche in der wirtschaftlichen Entwicklung gelten als die Erklärungsgrösse für Veränderungen in der Parteienlandschaft.
Bankenkrisen bilden dabei eine Kategorie für sich. Denn sie verändern nicht nur Gewinner und Verlierer, sie schwächen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in politische Institutionen tiefgreifend. Das ist die Geburtsstunde des Bürgerprotests.
In Europa gilt die Regel
Europäisch gesehen gibt die globale Finanzmarktkrise ab 2008 den gültigen Rahmen ab, um die jüngsten Entwicklungen in der Parteienlandschaft des Kontinents zu erklären. Denn seither nehmen populistische Bewegungen zu, rechts wie links. Migrations- und Sparpolitiken bieten ihnen Angriffsflächen.
Der Autor
Claude Longchamp zählt zu den erfahrensten und angesehensten Politikwissenschaftlern und -analysten der Schweiz.
Er war Gründer des Forschungsinstitutes gfs.bern, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung war. Er ist nach wie vor Präsident des Verwaltungsrats. Longchamp analysierte und kommentierte während 30 Jahren Abstimmungen und Wahlen am Schweizer Fernsehen SRF.
Für swissinfo und dessen Demokratieplattform #DearDemocracy schreibt Longchamp jeden Monat eine Kolumne zu den Schweizer Wahlen 2019.
Noch ist nicht sicher, ob der politische Tiefpunkt für das herkömmliche Parteiensystem bereits überwunden ist. Zwar zeigen Arbeitslosenzahlen nach unten, und die Akzeptanz der Europäischen Union (EU) ist im Umfragehoch.
Die Nagelprobe folgt allerdings erst im Mai 2019, wenn das Europäische Parlament neu gewählt wird. Sozial- und Christdemokraten dürften verlieren, Liberaldemokraten und Rechtspopulisten gewinnen.
In der Schweiz gilt sie nicht
Die europäische Optik hilft allerdings kaum, um die dramatischen Veränderungen im Schweizer Parteiensystem der vergangenen 30 Jahren zu verstehen.
Mehr
Claude Longchamp – der Wahlversteher erklärt
Nicht die ausbrechende Finanzmarktkrise 2007 brachte die Wende. Vielmehr war es die Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum EWR vom Jahr 1992.
Die SVP (siehe Parteienbox), die das Schweizer Stimmvolk zur Ablehnung des Beitritts an der Urne führte, stieg danach gesamtschweizerisch zur führenden Partei auf.
Parallel dazu entwickelte sich in den grösseren Städten der deutschsprachigen Schweiz eine Gegenbewegung mit Mehrheiten aus Rot und Grün, bisweilen auch der Mitte.
Stark polarisiert wurde so der politische Kampf. Programmatische Gemeinsamkeiten zwischen links und rechts sind selten geworden. Zugenommen hat die weltanschauliche Polarisierung.
Die neue Theorie des «Cultural Backlash»
Vor einem Monat erschien ein bahnbrechendes Buch aus der Feder der US-Forscher Pippa Norris und Ronald Inglehart. Es heisst «Cultural Backlash». Auf Deutsch würde man wohl «Kultureller Rückschlag» oder «Kulturelle Gegenbewegung» titeln.
Alles begann laut dem Autoren-Duo mit der langanhaltenden Konjunktur der Nachkriegszeit. Verbunden mit der Bildungsrevolution der 1960er-Jahre entstanden neue Generationen, deren Werte sich von denen ihrer Eltern unterschieden.
In Gang gesetzt wurde so eine kulturelle Entwicklung. Deren Summe nennen die Forscher «sozialliberal». Forderungen nach Frauenrechten, nach Ökologie im Alltag und nach Selbstentfaltung in einer Gesellschaft, die örtlich nicht mehr eng und abgeschlossen definiert wird, sind hierfür typisch.
Der «Cultural Backlash» entsteht in Kipp-Momenten der kulturellen Entwicklung. Dabei verlieren bisher dominante Gesellschaftsgruppen die kulturelle Vorherrschaft.»
Spannend am neuen Buch ist, dass die Autoren auch eine sozialkonservative Gegenbewegung aufkommen sehen, eben den «Cultural Backlash». Dieser entsteht in Kipp-Momenten der kulturellen Entwicklung. Dabei verlieren bisher dominante Gesellschaftsgruppen die kulturelle Vorherrschaft. Ihre Mehrheit in der Demokratie sehen sie bedroht.
Europa gebar den Schweizer Graben
Die kulturelle Gegenbewegung erklärt die grossen Veränderungen im Parteiensystem der Schweiz viel klarer als der Versuch, dafür ökonomische Gründe zu finden.
Just am Tag nach den Nationalratswahlen 1991 erklärte der Bundesrat, er wolle im Europäischen Wirtschaftsraum mitmachen. Später sah er das sogar als «Trainingslager für den EU-Beitritt». Der Aufschrei im nationalkonservativen Lager war riesig und befeuerte die Kontroverse vor der Volksabstimmung zum EWR-Beitritt 1992 in bis dato unbekanntem Masse.
Es war dies die Geburtsstunde einer euro-optimistischen und einer euro-skeptischen Bewegung. Diese verharren bis heute in einem Patt: Die Politik der Schweizer Regierung ist meist europafreundlich, die Grundstimmung der Bevölkerung meist europafeindlich.
Die passgenaue Theorie für die Schweiz
Zuoberst steht seither für die Sozialkonservativen die Rückkehr zur wirtschaftlichen Leistung als Grundlage des individuellen Erfolgs. Gepaart wird sie mit einem traditionellen Familienbild, der klassischen Rollenteilung zwischen Mann und Frau und der Ehe, die nur durch sie begründet werden kann.
Kulturelle Durchmischung ist den Sozialkonservativen ein Gräuel, da sie die Vorrechte der Einheimischen zwangsläufig schmälere. Den Kampf gegen diese Durchmischung sollen starke Männer führen, die dafür auch Demokratie einschränken dürfen.
Soweit die Theorie. Stimmt sie für die Schweiz? Und wie!
«In den urbanen Zentren dominieren sozialliberale Werte, auf dem Land sozialkonservative.»
Umschrieben wird so die aktuelle politisch-kulturelle Polarisierung des Landes. In den urbanen Zentren dominieren sozialliberale Werte, auf dem Land sozialkonservative.
Erstere sind in der Westschweiz stärker, letztere in der Ostschweiz. Entsprechend sind die neuen Trends bei kantonalen Wahlen in den letzten Jahren. Links und rechts haben sich so noch mehr auseinandergelebt.
Massgeblich waren nur selten ökonomische Konflikte. Denn der Reichtum der Schweiz genügt meistens, vertretbare Lösung zu finden. Doch darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein tiefer kultureller Graben die Schweiz teilt.
«Es ist Europa, Dummkopf!»
Wohin führen uns nun die nächsten Schweizer Wahlen vom Oktober 2019? Global gesehen dominiert der Sozialkonservatismus, mindestens solange Donald Trump Präsident der USA ist. Auch die anstehenden Europawahlen dürften die von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erhoffte sozialliberale Wende höchstens in Ansätzen bringen.
Meine Bewertung zur Schweiz ist offen. Die Wahl von zwei neuen Bundesrätinnen Ende 2018 hat sozialliberales Handeln bis weit ins bürgerliche Lager gestärkt.
Auch der Aufschwung der Umweltbewegung durch die Klimastreiks kann in diesem Licht gesehen werden. Entschieden sind die nationalen Wahlen damit noch nicht. Denn die Europa-Frage harrt ungebrochen einer Lösung.
Sie hat den «Cultural Backlash» 1992 eingeleitet. Sie dürften auch seine Zukunft bestimmen.
Die Parteien der Schweiz
SVP: Schweizerische Volkspartei (rechtskonservativ)
SP: Sozialdemokratische Partei (Links)
FDP.Die Liberalen: Freisinnig-Demokratische Partei (rechtsliberal)
CVP: Christlichdemokratische Volkspartei (Mitte/Rechts)
GPS: Grüne Partei (Links)
GLP: Grünliberale Partei (Mitte)
BDP: Bürgerlich-Demokratische Partei (Mitte)
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