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«Schweizer Regierung kuschte vor den USA»

Ein Lybisches Atomprogramm unter Überwachung. Keystone

Der Bundesrat habe nicht souverän, feige und unter grober Missachtung der Rechtsstaatlichkeit gehandelt. – So kommentiert die Schweizer Presse den Bericht zur Aktenvernichtung im Fall der mutmasslichen Atomschmuggler Familie Tinner.

Der Bundesrat habe im Fall Tinner auf der ganzen Linie versagt, kommentiert die Basler Zeitung: «Er hat sich durch die Regierung der USA instrumentalisieren lassen. Er hat die Souveränität unseres Landes missachtet und durch mutwillige Sabotage eines Gerichtsverfahrens dem Ansehen des Rechtsstaates Schweiz geschadet.»

Nicht nur der damals federführende Justizminister Christoph Blocher mache «eine jämmerliche Figur», so die Basler Zeitung, der Bundesrat in Corpore habe sich «in dieser üblen Affäre fast wie das Regime einer Bananenrepublik» benommen.

Die Süddeutsche Zeitung stellt fest, der Bericht der parlamentarischen Aufsicht zur Aktenvernichtung lasse die Schweiz «als eine Art Bananenrepublik am Gängelband der USA» erscheinen.

Blocher und die Souveränität

«Jetzt ist es amtlich: Blocher hatte Angst vor den Amis», stellt der Blick fest und der Berner Bund titelt: «Vor den USA gekuscht» und räumt ein: «Dass der Bundesrat den USA einen Gefallen tun wollte, kann durchaus im höheren Interesse des Landes gelegen haben.»

Die Schweiz sei in Sicherheitsfragen und bei der Terrorbekämpfung auf die Zusammenarbeit mit amerikanischen Geheimdiensten angewiesen. «Nur passt das Ganze schlecht zur Rhetorik des damaligen Justizministers Blocher und anderer Kreise, die bei jeder Gelegenheit das Hohelied von der souveränen Schweiz anstimmen.»

Der Bundesrat als Saboteur

Auch nach der Publikation des Berichts der parlamentarischen Aufsicht sei nicht klar, ob die Tinners skrupellose Atomdealer waren oder ob sie als CIA-Informanten dem Weltfrieden gedient haben, bilanziert der Tages-Anzeiger.

Es wäre an den Gerichten gewesen, diese Frage und auch die Schuldfrage zu klären. Soweit werde es aber kaum kommen. «Denn der Bundesrat hat mit der von ihm angeordneten Aktenvernichtung das Strafverfahren sabotiert», kritisiert der Tages-Anzeiger und folgert: «Mit seinem Vorgehen missachtete der Bundesrat die Unabhängigkeit der Justiz und foutierte sich um die parlamentarische Aufsicht.»

Zähflüssiger Informationsfluss

Die Neue Zürcher Zeitung erinnert daran, dass der Bundesrat den Bericht ursprünglich unter Verschluss halten wollte. Die Geschäftsprüfungs-Kommission habe sich nun zu Recht darüber hinweggesetzt. «Die Veröffentlichung des Berichts schadet nichts. Er verdeutlicht jedoch, dass die Kontrollmechanismen im innersten Geheimbereich des Staates nicht immer funktionieren.»

Der Bericht beschreibe den Informationsfluss im Kollegium als zähflüssig. «Justizminister Blocher informierte die Kollegen bruchstückhaft, Aussenministerin Calmy-Rey trat für die integrale Aktenvernichtung ein, weil sie Unstimmigkeiten mit den USA abwenden wollte.»

Die Ironie der Aktenvernichtung bestehe darin, dass «ohnehin Kopien der vernichteten Dokumente im Ausland aufbewahrt werden», so die NZZ. «Die US-Geheimdienste und die Internationale Atomenergieagentur werden das Material kaum entsorgen. Oder zumindest nicht so rasch.»

«Unheilvoll»

Bisher habe sich der Bundesrat hinter den Zweifeln versteckt, schreibt der Genfer Le Temps. Nun habe jedoch die parlamentarische Aufsicht ihren Bericht gegen den Willen des Bundesrates veröffentlicht: «Für den Bundesrat ist das unheilvoll.»

Denn die Regierung habe «unzulänglich» gehandelt. Der Bericht zeige die «Unfähigkeit» auf, mit der sie sich in dieser «delikaten Frage» verhalten habe.

swissinfo, Andreas Keiser

Der Bericht ist von den politische Parteien unterschiedlich kommentiert worden.

Für die Sozialdemokraten und die Christdemokraten haben sich die erheblichen Mängel am bundesrätlichen Vorgehen bestätigt.

Die SP begrüsst vor allem die vollumfängliche Veröffentlichung entgegen den Empfehlungen des Bundesrats.

Der Bericht sei «klar und seriös» ausgefallen. Beim Entscheid des Bundesrats zur Aktenvernichtung seien erhebliche Mängel geortet worden.

Der damalige Sicherheits-Ausschuss mit den Bundesräten Blocher, Schmid und Calmy-Rey habe in der Verantwortung gestanden und offensichtlich das Prinzip der Gewaltenteilung geritzt, stellt die CVP fest.

Die SVP verteidigte den Bundesrat.

Die FDP verlangt «institutionelle Modifikationen», damit künftig die Gewaltentrennung gewahrt sei.

Die vernichteten Dokumente stehen im Zusammenhang mit einer Affäre, bei der es um den Schmuggel von Nukleartechnologie für Libyen geht.

Am 23. Mai 2008 hatte der Bundesrat die Vernichtung damit rechtfertigt, dass die Akten ein Risiko für die Sicherheit der Schweiz darstellten.

In das Strafverfahren um den Atomschmuggel verwickelt sind auch drei Schweizer: Die zwei Ingenieure Urs und Marco Tinner.

Die drei sollen 2001 bis 2003 für Abdul Qader Khan, den «Vater der pakistanischen Atombombe», gearbeitet haben, der ein geheimes Atomwaffenprogramm für Libyen durchführte.

Die Affäre flog Anfang 2004 auf, nachdem Libyen sein Atomwaffenprogramm eingestellt und Khan die illegalen Atomgeschäfte mit Iran, Libyen und Nordkorea zugegeben hatte.

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