Schweizer Strafgesetzbuch auf der Anklagebank
Erst zwei Jahre in Kraft und doch steht das Schweizer Strafrecht ständig im Kreuzfeuer der Kritik. Am Mittwoch nimmt sich der Nationalrat in einer Sondersession des Themas an, am 9. Juni folgt der Ständerat.
Auf der Anklagebank befinden sich in erster Linie die Geldstrafen, die auf Tagessätzen berechnet werden, welche sich nach Einkommen und Arbeit richten. Diese Geldstrafen haben die Gefängnisstrafen bis 6 Monate Dauer abgelöst.
Die Grundidee der Strafrechtsreform war die soziale Wiedereingliederung der Täter. Kritisiert wird nun, dass Verbrecher die Strafen nicht ernst genug nähmen, um einen Rückfall zu vermeiden. Im neuen Strafgesetzbuch müssen die Richter nicht nur die Taten der Angeklagten berücksichtigen, sondern auch deren Zukunftsaussichten.
Befürworter sind der Ansicht, mit einer Geldstrafe statt Freiheitsentzug könne man vermeiden, dass Straftäter ihren Arbeitsplatz verlieren und dadurch in einen Teufelskreis von Ausgrenzung und Straftaten gerieten.
Dieser Ansatz wird von jenen in Frage gestellt, die der Ansicht sind, dass die Strafe einen abschreckenden Charakter haben müsse. Milde Strafen wirken ihrer Ansicht nach nicht abschreckend. Im Gegenteil: Damit würden Kriminalität und Rückfallraten erhöht.
Seit den ersten Monaten nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes wird dessen Wirksamkeit in Frage gestellt. Die Verfechter der beiden Ansichten liefern sich einen erbitterten Kampf. An dieser öffentlichen Debatte nehmen Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte, kantonale Regierungsräte und auch Rechtsprofessoren teil.
Vor diesem Hintergrund findet auch die Debatte im Parlament statt. Verschiedene Parteien haben eine ganze Reihe von Vorstössen angekündigt, die darauf abzielen, härtere Strafen einzuführen.
Bewertung soll Klarheit schaffen
Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf ist skeptisch, ob ein rascher Wechsel von Geldbussen zu härteren Strafen sinnvoll sei. Denn erst einmal müsse die jetzige Situation genau analysiert werden, bevor man Änderungen beschliesse.
Ihr Departement hat eine Bewertung vorgenommen über die Effizienz der neuen Strafgesetz-Bestimmungen. Auch die Kantone durften sich über ihre Erfahrungen äussern. Sie wurden gebeten, sich auch zu den in letzter Zeit im Parlament aufgetauchten Forderungen nach Verschärfung des Rechts zu äussern.
Die Bilanz dieser Untersuchung sollte eine erste umfassende Übersicht bieten über die Situation in der Schweiz. Bisher wurde die Auseinandersetzung zu diesem Thema geprägt von theoretischen Interpretationen und fragmentarischen Daten.
Unterschiedliche Ausgangslagen
Anfang Mai sagte der Berner Justizdirektor Christoph Neuhaus von der Schweizerischen Volkspartei (SVP), dass in seinem Kanton rund 30% der Verurteilten ihre Strafarbeit in öffentlichen Einrichtungen nicht ausführten und dass ein Drittel der zu einer Geldbusse Verurteilten, diese nicht bezahlten. Diese Aussagen haben die öffentliche Diskussion zu diesem Thema angeheizt.
Die Verurteilten nutzten sämtliche Schlupflöcher im System, um die Vollstreckung von Strafen zu umgehen, sagte der rechtskonservative Politiker. Zudem seien die Modalitäten für die Einführung von Sanktionen zu lang.
Laut einer Umfrage der Schweizerischen Depeschenagentur variiert die Situation in den einzelnen Kantonen stark. Viele der in den Kantonen Verantwortlichen sollen aber Mühe bei der Umsetzung in ihrem Kanton bekunden. Einige sprechen sich für die Rückkehr zum alten Gesetz aus.
Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) hat angekündigt, dass nach der Analyse der amtlichen Daten im Jahr 2010 ein Zwischenbericht ausgearbeitet werde.
Auch mehrere Strafrechtsexperten sind der Ansicht, es sei jetzt noch zu früh, Schlussfolgerungen zu ziehen. Man müsse die wissenschaftlichen Auswertungen abwarten um herauszufinden, ob die Kriminalität in der Schweiz sich dauerhaft so entwickle und ob es eine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung gebe zwischen diesem Phänomen und dem neuen Strafrecht.
Ungeduldige Parteien
Aber die SVP will nicht so lange auf eine Verschärfung des Strafrechts warten. Sie verlangt die Suspendierung dieses Rechts, das die Kriminellen verwöhne und die Interessen der Opfer und der Sicherheit der Bevölkerung ignoriere.
Die grösste Partei der Schweiz hat deshalb die Einberufung einer Sondersession des Nationalrats verlangt, damit das Thema debattiert werden kann. Sie verlangt die Rückkehr zu den alten Freiheitsstrafen bei Urteilen bis sechs Monaten, mit und ohne Bewährung. Wenn es nach der SVP geht, sollen Geldbussen so wie die Möglichkeit, eine bedingte Strafe in Arbeit für die Öffentlichkeit umzuwandeln, abgeschafft werden.
Diese Anträge erhalten im Parlament Unterstützung von der freisinnigen Fraktion, von den Christlichdemokraten, der Evangelischen Volkspartei und den Grünliberalen. Die Freisinnig-Demokratisch Partei (FDP) hat zudem eine Internetpetition lanciert, welche die Parlamentarier der beiden Kammern auffordert, das Strafrecht möglichst rasch zu ändern.
Auch ein paar sozialdemokratische Parlamentarier fordern eine Verschärfung, vor allem in den Bereichen sexuelle Gewalttaten und Gewaltverbrechen. Chantal Galladé fordert eine Erhöhung der Mindeststrafe für Vergewaltigung auf drei Jahre. Daniel Jositsch, Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, fordert Gutachten, um herauszufinden, ob die Strafgerichte den Spielraum ausnutzen, den ihnen das Gesetz gibt.
Die SVP-Initiative «für die Ausweisung von Ausländern, die Straftaten begangen haben», wird von den anderen Regierungsparteien nicht unterstützt.
Der Initiativtext verlangt, dass allen Ausländern, die wegen Mord, Vergewaltigung, Raub, Drogenhandel, Diebstahl, Menschenhandel oder erschlichenen Sozialleistungen verurteilt werden, die Aufenthaltsbewilligung entzogen wird.
Egal, was die parlamentarischen Debatten für Resultate bringen werden, eines ist bereits sicher: Die Emotionen werden hochgehen.
Sonia Fenazzi, swissinfo.ch
(Übertragung und Adaption aus dem Italienischen: Etienne Strebel)
Eine aktuelle Analyse des Bundesamtes für Statistik (BfS) über den Anteil der Rückfälle zeigt, dass es von 1987 bis 2003 in der Schweiz bei den schweren Fällen von Fahren im angetrunkenen Zustand zwischen den «strengen» und den «grosszügigen» Kantonen keinen signifikanten Unterschied gibt.
Die Bandbreite der in diesem Bereich ausgesprochenen Strafen ohne Bewährung differiert ganz erheblich. Sie bewegt sich von 90% im Kanton Schaffhausen zu weniger als 50% in den Kantonen Genf und Tessin. Trotzdem zeigt sich die Rückfallrate innerhalb von drei Jahren praktisch gleich: Sie liegt ungefähr bei 14%.
Laut BFS deuten die Ergebnisse der Analyse darauf hin, dass es nicht so sehr auf die Art der Sanktion oder die Höhe der Geld- oder Freiheitsstrafe ankommt. Die grösste Wirkung gegen die Rückfälligkeit ist das Risiko, erwischt zu werden oder die allgemeine Verurteilung innerhalb der Bevölkerung gegenüber dieser Art von Verstössen.
Dieselben Trends wurden vom BFS auch für andere Arten von Gesetzesverletzungen festgestellt.
Das Projekt zur Revision des Strafgesetzbuches stammt aus dem Jahr 1942, erst 1987 wurde es konkret angegangen.
Nach langen und hitzigen Debatten hat das Eidgenössische Parlament 2002 die Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches gutgeheissen.
Die neuen Bestimmungen traten am 1. Januar 2007 in Kraft.
Die Reform wird 2010 abgeschlossen sein, wenn die Strafprozessordnung in Kraft tritt, die an die Stelle der 26 kantonalen und der Bundesstrafgesetzordnungen (Allgemeine, Verwaltung und Militär) treten und für eine Vereinheitlichung der Verfahren sorgen wird.
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