Grüne Welle, Frauenwahl und neue Mehrheitsbeschaffer
Gefangen in der Frage, welche Wahlprognose nun stimmt, übersieht man gerne das Wichtigste: Spätestens am Wahlabend stellen sich Fragen nach den Ursachen und Folgen der Nationalratswahlen für die Politik. Meine Auslegeordnungen der wahrscheinlichsten Interpretationen.
Nehmen wir an: Am 20. Oktober 2019 gewinnen Grüne und Grünliberale im Nationalrat Stimmenanteile und Sitze hinzu, wie es ein Abgleich aller Prognosen hier nahelegt. Unterstellen wir zudem, dass die SVP am meisten verliert, während BDP und CVP beschränkte Rückgänge erleiden. Bei SP und FDP wäre dann ein Ergebnis rund um ein Halten am wahrscheinlichsten.
Der Autor
Claude Longchamp zählt zu den erfahrensten und angesehensten Politikwissenschaftlern und -analysten der Schweiz.
Er war Gründer des Forschungsinstitutes gfs.bern, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung war. Er ist nach wie vor Präsident des Verwaltungsrats. Longchamp analysierte und kommentierte während 30 Jahren Abstimmungen und Wahlen am Schweizer Fernsehen SRF. Er wird dies auch am 20. Oktober für SRF und swissinfo.ch tun.
Für swissinfo schreibt Longchamp jeden Monat eine Kolumne zu den Schweizer Wahlen 2019. Für die Demokratieplattform #DearDemocracy verfasst er Analysen zur Entwicklung der Demokratie in der Schweiz.
Interpretation der Ergebnisse im zeitlichen Überblick
Für CVP und BDP würde das ein historisch schlechtes Abschneiden bedeuten. Die CVP wäre so schwach wie seit der Einführung des Proporzwahlrechts 1919 noch nie. Und die BDP hätte ihr schwächstes Ergebnis seit ihrer Gründung 2008 eingefahren.
Bei der BDP gar könnte die Existenzfrage auf der nationalen Ebene aufkommen, wenn sie die Fraktionsgrenze verpasst: national bedeutungslos, kantonal weiter mit einigen Hochburgen politisierend. Dagegen dürfte Viola Amherds neue Ausstrahlung und Positionierung im Bundesrat wiederum harte Frage an die Zukunft der CVP als Regierungspartei verhindern.
Den historischen Höchststand seit Einführung des Verhältniswahlrechts, den die SVP 2015 erreichte, würde sie diesmal verpassen. Bis zu rund 2,5 Prozentpunkten Minus wird man von einer Kompensation für die Gewinne von 2015 sprechen. Bei grösseren Verlusten käme wohl die Frage auf, ob die Zeit für rechtspopulistische Politik auch in der Schweiz zu Ende geht.
Gewinnen die beiden grünen Parteien hinzu, sind auch dies zunächst «Jo-Jo»-Effekte. Denn 2015 verloren GPS und GLP sowohl Wählende als auch Sitze. Fallen sie jedoch in einer Höhe von über 2,5 Prozentpunkten pro Partei aus, kann man von einem Sprung umweltfreundlicher Ansichten ausgehen. Denn für beide Parteien könnte es diesmal historische Höchststände geben.
Schliesslich SP und FDP: Halten sie sich, wird die Erleichterung angesichts negativer gewordener Prognosen mit Händen greifbar sein. Dennoch, beide Parteien haben im Wahljahr an Schwung verloren, den sie sich in den kantonalen Wahlen geholt hatten.
Damit sind wir bei den Themen.
Der Einfluss der Themen auf den Wahlausgang
Die Wahlforschung wird schnell zahlreiche Belege liefern, dass 2019 die politische Grosswetterlage den Wahlausgang wenigstens in der grossen Parlamentskammer bestimmte.
Klar werden wird, dass die Klimadebatte das Wahljahr 2019 sprachregional übergreifend und zeitlich anhaltend prägte. Man wird auch zeigen können, dass sich die Massenmedien der politischen Herausforderung breit angenommen haben, und so ein vorherrschendes Meinungsklima zugunsten von mehr Ökologie geschaffen haben.
Alle Parteien haben darauf reagiert, aber nur wenige konnten profitieren. Das wird wohl ein Hauptthema der Erstanalysen sein.
Die Medienforschung weist den Weg für eine Antwort. Bei einem aufgeheizten Meinungsklima gewinnt letztlich nur, wer klar positioniert ist. Das setzt ein dauerhaftes Wirken im Themenbereich und ein aktualisiertes Profil voraus.
GPS und GLP haben das geschafft, SP, CVP und FDP aus verschiedenen Gründen nicht. Die SVP hat sich ein skeptisches Profil zum Klimawandel erarbeitet, doch wirkt es opportunistisch, denn es folgt dem bekannten Strickmuster «einfach klar dagegenhalten».
Die wichtigsten Parteien der Schweiz (mit Fraktionsstärke im Parlament)
SVP: Schweizerische Volkspartei (rechtskonservativ)
SP: Sozialdemokratische Partei (Links)
FDP.Die Liberalen: Freisinnig-Demokratische Partei (rechtsliberal)
CVP: Christlichdemokratische Volkspartei (Mitte/Rechts)
GPS: Grüne Partei (Links)
GLP: Grünliberale Partei (Mitte)
BDP: Bürgerlich-Demokratische Partei (Mitte)
Wohl werden die Wahlkommentatoren auch festhalten, dass zahlreiche weitere Baustellen der Schweiz bestehen bleiben: allen voran die Krankenkassenkosten, aber auch das Rahmenabkommen, gewisse Migrationsprobleme und die Rentenreform. Da weiss man aufgrund der Wahlen kaum zuverlässig, was gewünscht wird.
Was in der Parteilandschaft anders sein wird
Politologinnen und Politologen werden sich zu Recht fragen, was die Wahl 2019 an bleibenden Veränderungen im Parteiensystem bewirkt hat.
Neue Parteien wie 2007 oder 2011 sind nicht entstanden, erneuerte indessen schon, dürfte ihre Antwort lauten.
Zunächst sind die Frauen in der Schweizer Parteipolitik auf dem Vormarsch. Sie werden überall zulegen, insbesondere aber bei den liberalen Parteien. Das kann zu neuen Schwerpunkten in der Parlamentsarbeit führen.
Frauen werden auch im Ständerat besser vertreten sein. Die Tür dazu eröffneten die unüblich vielen Rücktritte. 19 der 46 Standesherren und -damen werden ihre Arbeit in der kleinen Kammer Ende Jahr beginnen. Das könnte Dynamik in die sonst so stabilen Verhältnisse im Parteiensystem bringen.
Die markanteste Veränderung in der Parteienlandschaft dürfte 2019 jedoch die GLP gemacht haben. Denn mit der «Mitmachpartei» hat sie 2019 ein neues Konzept etabliert. Dieses geht von niedrigen Barrieren aus, um parteipolitisch aktiv werden zu können. Das ist vor allem für junge Menschen im urbanen Gebiet attraktiv. Es zieht aber auch Unzufriedene mit den bisherigen Parteien von moderat links bis moderat rechts an.
Grüne und CVP mit neuen Rollen
Die spannendste Frage zu Veränderungen wird sich jedoch bei der Grünen Partei stellen. Nicht nur in der Schweiz, in halb Europa zählen ihre Schwesterparteien neuerdings zu den Wahlsiegern. Und mancherorts stellt sich die Frage nach dem Regierungseintritt.
Gegen eine grüne Bundesrätin oder einen grünen Bundesrat spricht, dass die beiden grünen Parteien programmatisch verschieden sind. Ihre Wähleranteile und Sitzzahlen könnten nicht einfach addiert werden, solange sie kein gemeinsames Programm vorlegen. Zudem werden sie nur im Nationalrat erstarken, im Ständerat kaum.
Erschwert wird eine solche Wahl auch, solange kein bisheriges Mitglied zurücktritt.
Begründet werden kann die Wahl einer grünen Magistratsperson mit dem aktuellen Politikwechsel. Die Schweiz braucht eine neue Klimapolitik.
Das wird sich im Parlament auswirken, wenn sich SP, CVP, Grüne und Grünliberale finden. Denn sie dürften in beiden Parlamentskammern neu eine Mehrheit haben.
Mindestens im Nationalrat könnten sie sich neu auf eine numerische Überlegenheit stützen. Die grosse Kammer als Gegenstück zur kleinen, wo Mitte/Links jetzt schon eine Mehrheit hat, wenn sie kooperieren, wird der Geschichte angehören.
Die neue Politik wird aber nicht so funktionieren, wie in einer Koalitionsregierung in einem parlamentarischen System. Denn CVP und GLP, beide in der Mitte positioniert, werden in der nächsten Legislatur auch thematische Mehrheiten mit rechts finden.
Das erhöht den Stellenwert der CVP, ähnlich wie das bis zur vorletzten Legislatur der Fall war. Bei der GLP eröffnen sich ganz neue Chancen, bei Unschlüssigkeit der CVP zur Mehrheitsbeschafferin in Ökologie-, aber auch Wirtschafts- und Sozialfragen zu werden.
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