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Sechs Lehren aus der Klatsche für die BVG-Reform

Das Nein Komitee mit unter anderem Pierre-Yves Maillard, SP-VD, Praesident SGB, Mitte, und Vania Alleva, Praesidentin Unia, freuen sich zum Trend der BVG-Abstimmung, am Sonntag, 22. September 2024, in Bern. Das Schweizer Stimmvolk stimmt ueber die Biodiversitaets- und BVG-Initative ab..(KEYSTONE/Peter Schneider)
Das Nein-Komitee mit Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard jubelt am 22. September über das Nein zur Rentenreform. Keystone / Peter Schneider


Die Schweizer Stimmbevölkerung will es genau wissen, wenn es um das Geld im eigenen Portemonnaie geht. Eine von sechs Erkenntnissen aus der BVG-Klatsche. Unsere Analyse. 

1. Diese Reform war zu intransparent

Wer wissen wollte, wie sich die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) auf die eigene Rentenhöhe auswirkt, lief bei dieser Abstimmungsvorlage ins Leere. “BVG-Reform Rechner” war ein rege gesuchter Begriff auf Google. Aber auch die Suchmaschine fand keine Antworten, so wenig wie Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider, die dem Stimmvolk riet: “Fragen Sie bei Ihrer Pensionskasse nach”.  

So stand gerade mal fest, dass es die heutigen Rentner:innen selbst nicht betreffen würde, und dass sich auch für Schweizer:innen im Ausland wohl wenig ändern würde. Ausser, wenn sie mit einem Schweizer Arbeitsvertrag ausgewandert sind oder Freizügigkeitsgelder auf einem Konto hatten, oder doch nochmals in die Schweiz zurückkehren würden. Das allein zeigt, wie viele Eventualitäten diese Reform bereithielt. Dass das Gesetz über die berufliche Vorsorge in sich komplex ist, war nicht zu ändern und nur die zweitgrösste Schwäche der Vorlage. Die Grösste war ihre Intransparenz. 

2. Rentenreform, das geht nur in Babyschritten 

Bundesrat und Parlament haben nichts dazugelernt. Auch das ist ein Fazit dieses Abstimmungssonntags. Dabei schien es, als hätte sich 2017, als die letzte Grossreform der Altersvorsorge gescheitert war, die Erkenntnis durchgesetzt, dass in diesem sensiblen Thema nur kleine Schritte möglich sind. 

Den Beweis dafür brachte fünf Jahre später die Reform «AHV 21», mit der das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahre angehoben wurde. Sie hatte die Komplexität reduziert und die Gruppe der Verliererinnen eingegrenzt. Demgegenüber stellt die für grosse Reformen typische Opfersymmetrie solche Vorlagen von Beginn an unter einen schlechten Stern. Denn in der Altersvorsorge entscheiden die Abstimmenden nicht zum Wohle der Stabilität des Systems, sondern mit Blick auf die eigene Rente.  

Auf dieses Wochenende übertragen, heisst das: Bundesrat und Parlament hätten die Verbesserung der Rentensituation von Teilzeitkräften und Geringverdienenden (via Koordinationsabzug) separat beschliessen sollen. Stattdessen versuchte man eben diesen kleinsten gemeinsamen Nenner der Parteien zum Fundament einer umfassenderen Reform der zweiten Säule zu machen. Mit dem unabwendbaren Resultat, dass dieser eklatante Systemfehler im Rentensystem weiterbesteht. 

3. Gewerkschaftsboss Maillard festigt seine Macht 

Es ist wieder ein Sieg von Pierre-Yves Maillard, dem zurzeit wohl einflussreichsten Politiker der Schweiz. Der Boss des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds hat im März der 13. AHV-Rente zum Sieg an der Urne verholfen. Nun bodigte er die Reform der beruflichen Vorsorge.  

Maillard festigt damit seinen Status als der neue Schweizer Volkstribun, ein Linkspopulist, der an die Stelle des 83-jährigen Rechtspopulisten Christoph Blocher getreten ist. So unterschiedlich die beiden politisch ticken, es verbindet sie ein einzigartiges Gespür für die Sorgen der Bevölkerung und die Fähigkeit, das Volk mit einfachen Formeln für ihre Politik zu gewinnen.  

«Mehr bezahlen für weniger Rente» war diesmal Maillards Formel, die sich durchsetzte. Auch wenn es nur für einen Bruchteil der Bevölkerung zutrifft, teilten in Umfragen 55% der Befragten diese Sicht auf die Vorlage: Diese sei ein «Bschiss» an der arbeitenden Bevölkerung.  

4. Die Wirtschaft hat keinen Draht zum Volk mehr 

Die Wirtschaft und die Bürgerlichen tun sich immer schwerer, das Volk für ihre Anliegen zu gewinnen. Arbeitgeberverband, Economiesuisse und die bürgerlichen Parteien leckten schon nach der Annahme der 13. AHV-Rente ihre Wunden – und erneut erleiden sie eine Niederlage. Was im Parlament funktioniert – dort dominieren die Ideen der bürgerlichen Allianz – verunfallt beim Ausrollen ins Volk.  

Denn da finden die Argumente der Wirtschaft weder Echo noch Anklang. Die Diskussionen um Managerlöhne und Konzernverantwortung, die Rettung der UBS, der Schiffbruch der Credit Suisse, all das hat Vertrauen gekostet, während das Leben für viele spürbar teurer wurde. Das wirkt nach. Nicht nur haben linke Organisationen auf Kanälen wie Instagram und Tiktok inzwischen weit mehr Einfluss. Der Wirtschaft fehlt zunehmend auch ein Gesicht – es mangelt an Aushängeschildern, die Gewicht haben, Glaubwürdigkeit geniessen und Leidenschaft ausstrahlen.  

Kampagne ohne Leidenschaft. So warb die Wirtschaft für die Reform.
Kampagne ohne Leidenschaft. So warb die Wirtschaft für die Reform. Keystone / Peter Klaunzer

Nicht einmal mehr Politiker:innen mögen in die Stiefel steigen: Die Parteien lagerten die Kampagne für die BVG-Reform aus, an eine Kampagnenorganisation. Aber so wie man Unterschriften-Sammlungen an Spezialfirmen auslagern und Volksinitiativen kaufen kann, lassen sich Abstimmungen nicht gewinnen. Für Siege an der Urne braucht es ein «feu sacré». Für die BVG-Reform brannte keines. 

5. Das Vertrauen in die Institutionen ist erschüttert 

Das Vertrauen in die Regierung ist in der Schweiz höher als in jedem anderen OECD Land. Dies ist jedoch eine äusserst fragile Errungenschaft. 

Das zeigte die Nachricht über einen Fehler bei der Berechnung der AHV-Prognosen. Mitten im Sommerloch wurde klar, dass die AHV-Ausgaben für 2033 in Wirklichkeit um vier Milliarden niedriger sein würden als während des Abstimmungskampfs für die 13. AHV-Rente im März angegeben. Das hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und die Bundesverwaltung insgesamt in Misskredit gebracht. 

In einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, kann dieser Fehler das Vertrauensverhältnis zwischen dem Schweizer Volk und seinen Behörden langfristig trüben, das sagen Politiker:innen aller Couleur, mit denen wir gesprochen haben. 

Auch wenn die genauen Auswirkungen kaum zu beziffern sind, der Fehler des BSV hat dieses klare Nein an der Urne zweifellos beeinflusst. Zum einen wurde klar, dass das Rentensystem besser dasteht als erwartet. Andererseits wurde das «Gütesiegel», das komplexen Vorlagen manchmal hilft, wenn sie Parlament und Regierung als Absender haben, ernsthaft beschädigt. 

In diesem Klima des Misstrauens fanden rationale Argumente kein Gehör. Auch solche, die bei der linken Seite des politischen Spektrums für eine Reform der betrieblichen Altersvorsorge hätten sprechen können – wie die bessere Absicherung von Geringverdienenden, insbesondere von Frauen. Oder sie gingen in der extremen Komplexität der Vorlage unter. 

6. Das Gefühl der Dringlichkeit war nicht stark genug 

Die Pensionskassen sind finanziell gesund. Niemand wollte im Laufe des Abstimmungskampfs das Gegenteil behaupten. Die Angst vor schlechten Renditen, Hauptgrund für die Senkung des Umwandlungssatzes und damit der Renten, war unbegründet. 

Die Pensionskassen konnten ihren Deckungsgrad in den letzten Jahren deutlich erhöhen. Im ersten Quartal 2024 lag dieser Indikator, der das Verhältnis zwischen dem Vorsorgevermögen und den Verpflichtungen gegenüber Aktiven und Rentner:innen misst, laut dem Monitor der Schweizer Kantonalbanken (Swisscanto) bei 119,6%. Weit über der 100%-Marke also, die Pensionskassen benötigen, um ihre Verpflichtungen zu decken. 

Die Alterung der Bevölkerung und die längere Lebenserwartung wurden von den Vorsorgeeinrichtungen gut vorweggenommen. Sie haben ihre Leistungen bereits an diese neuen Gegebenheiten angepasst. Dies gilt umso mehr, als die Schweiz mit ihrem starken Bevölkerungswachstum, das hauptsächlich mit dem Zuzug von Arbeitskräften aus den europäischen Ländern zusammenhängt, in einer beneidenswerten Position ist, was das Verhältnis zwischen Erwerbsbevölkerung und Rentner:innen angeht. 

Mit dem klaren „Nein“ an der Urne an diesem Sonntag sagten die Bürger:innen, dass das Schweizer Rentensystem kein Notfallpatient ist – und dass sie für einen gesunden Patienten nicht bezahlen wollen. 

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Editiert von Mark Livingston

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