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Sechs Lehren aus diesem Krankenkassen-Entscheid

Ein 1er Zimmer, im neuen Anna-Seiler-Haus, dem neuen Hauptgebaeude des Inselspitals Bern, waehrend der offiziellen Eroeffnungsfeier, am Donnerstag, 17. August 2023 in Bern. Das neue Hauptgebaeude des Inselspitals Bern hat 670 Millionen Franken gekostet und bietet 3250 modernste Zimmer. (KEYSTONE/Marcel Bieri).
Keystone / Marcel Bieri

Das Schweizer Volk ächzt unter der Last eines im internationalen Vergleich luxuriösen Gesundheitswesens. Aber es verwirft zwei Initiativen, die Lösungen suchten. Was sind die Gründe? Und wie geht es weiter? Unsere Analyse.

1. Die 13. AHV wurde zum Bumerang 

Die Schweizer Linke schien das Momentum auf ihrer Seite zu wissen. Fast euphorisch stieg die Sozialdemokratische Partei SP nach dem Ja zur 13. AHV-Rente im März dieses Jahres in den Abstimmungskampf um eine Begrenzung der Krankenkassenprämien auf maximal 10 Prozent des Einkommens der Versicherten. Das Volk, so die Lesart, hat genug von steigenden Mieten und Preisen, Grossverdiener:innen bei den Banken, es wünscht soziale Umverteilung. 

Doch jetzt ist der politische Sieg beim Rentenausbau für die Vorlage zu den Krankenkassenprämien zum Bumerang geworden. Denn die Finanzierung der 13. AHV-Rente entpuppt sich als politisches Fiasko. Die Binsenwahrheit, dass jemand für die Mehrkosten zahlen muss, hat just im Abstimmungskampf um die Prämienvorlage der SP das öffentliche Bewusstsein erreicht. Und das in einem Umfeld angespannter Bundesfinanzen. 

Das war Wasser auf die Mühlen der Gegner:innen auf bürgerlicher Seite. Ihr Argument, die Prämien-Entlastungs-Initiative könnte bis doppelt so hohe Kosten verursachen wie die 13. AHV-Rente – ein Extremszenario – hat seine Wirkung nicht verfehlt. 

Kommt dazu: Beim Ausbau der Prämienverbilligung war von Anfang an klar, wer die Rechnung erhält: die Steuerzahler:innen. Anders als beim Rentenausbau, bei welchem auch gänzlich unrealistische Ideen zur Finanzierung ins Spiel gebracht wurden (Finanztransaktionssteuer etc.), liess sich diesmal niemand mehr vorgaukeln, von den Mehrkosten unbehelligt zu bleiben.

2. Auslandschweizer:innen für die Einkommensschwachen

Es ist bemerkenswert, dass die Auslandschweizer:innen eine Lücke füllten, indem sie akzentuierter für die Einkommensschwachen einstanden.

Denn jene, die wohl am meisten von einer Prämien-Deckelung profitiert hätten, nämlich Familien mit tiefem Einkommen in der Schweiz, sind nicht die eifrigsten Urnengänger:innen. Oft sind sie nicht mal wahlberechtigt. Viele gehören zu den 27%, die zwar im Land leben und Steuern zahlen, aber nicht mitbestimmen können. Denn dazu braucht es die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Es ist exakt jene Klientel, die soziale Nöte kennt. Deren Anliegen – Kinderbetreuung, Elternurlaub – werden bei Urnengängen in der Schweiz aber verlässlich zurückgewiesen. Familienpolitik bleibt somit das Stiefkind der Schweizer Sozialpolitik. 

Die Schweizerinnen und Schweizer im Ausland sind zwar von den Krankenkassenprämien nicht betroffen, weil sie sich nicht in der Schweiz versichern dürfen. Sie durften aber – wie bei jeder Vorlage – als Schweizer Bürger:innen auch hier mitreden. Unberührt von allfälligen Steuerfolgen standen der Prämienentlastungsinitiative positiver gegenüber als das Inland.

Hier die Stimmabsichten der Auslandschweizer:innen Mitte Mai, unsere detaillierte Analyse folgt am Montag:

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3. Warum ändern, was funktioniert?

Das Schweizer Volk hat einmal mehr seine Verbundenheit mit einem Gesundheitssystem bestätigt, das in Europa eine Ausnahme darstellt: Finanziert wird es zum Grossteil von den Haushalten, die Prämien sind für alle ähnlich hoch. Das mag zumindest von aussen betrachtet als unsozial erscheinen. 

Doch die Schweizer:innen scheint dies nicht zu stören. In den letzten 30 Jahren haben sie fünf Mal Initiativen aus den Reihen der Linken abgelehnt haben, die eine Einheitskrankenkasse oder einkommensabhängige Prämien forderten.

Das Schweizer Gesundheitssystem lastet zwar immer schwerer auf den Schultern der Mittelschicht. Doch es hat einen unschlagbaren Vorteil: Es funktioniert. Ob reich oder arm, Stadt- oder Landbewohner, Schweizer oder Nicht-Schweizerin – sie alle erhalten hochwertige medizinische Leistungen, und das relativ rasch – im Land mit einer der dichtesten Spitalkonzentrationen der Welt.

Umfassend versorgt: Die Schweiz leistet sich ein teures Gesundheitswesen.
Umfassend versorgt: Die Schweiz leistet sich ein teures Gesundheitswesen. Keystone / Valentin Flauraud

Im Abstimmungskampf kam etwa das englische Modell zur Sprache, das vollständig durch Steuern finanziert wird, aber mehr schlecht als recht funktioniert. Niemand will das, denn Zweiklassen-Medizin und medizinische Unterversorgung sind Szenarien, die in der Schweiz verlässlich abschrecken. 

Im Land der Eigenverantwortung scheint dem liberalen Gesundheitsmodell noch ein langes Leben beschieden zu sein.

Ein Aufschrei jedoch erfolgte in der Westschweiz und im Tessin: In diesen Minderheitsregionen bezahlen die Versicherten die höchsten Krankenkassenprämien. Dieses Signal sollte nicht unterschätzt werden. Findet die Politik keine Antworten auf die davongaloppierenden Gesundheitskosten, wird das Thema zur Gefahr für die nationale Solidarität.

4. Wer profitieren würde, war nie ganz klar

Die Initiative der Sozialdemokrat:innen klang einfach, doch sie war kompliziert. Und nichts meiden die Schweizer Stimmbürger:innen so verlässlich wie komplexe Initiativen. Einfach klang sie, weil 10% Prozent des Einkommens eine Zahl ist, die wohl jede:r Stimmbürger:in ohne nachzudenken für den persönlichen Fall nennen kann.  

Dann aber wird es kompliziert. Ob alleinstehend oder mit Familie, ob Alleinerziehender oder Rentnerin: All diese Faktoren bestimmen mit bei der Frage, ob jemand profitiert hätte oder nicht – je nach Kanton.

Unklar blieb auch: Für welches Versicherungsmodell schaffen wir einen Prämiendeckel? Wer Geld umverteilen und Solidarität einfordern will, muss erklären wofür. Die Details zum Versicherungsmodell hätte das Parlament erarbeiten müssen, wie auch, was als “verfügbares Einkommen” zu gelten hat.

Ein Fehler war zudem, dass die Initiant:innen ein Versicherungsmodell mit direktem Zugang zu Fachärzt:innen nicht ausgeschlossen haben. Diese teure Variante passte schlecht zu einem sozialpolitischen Anliegen. Der Eindruck bleibt, dass sich die Schweiz in der Grundversicherung eine Luxusvariante leistet. 

5. Die Volksinitiative der Mitte war nichts fürs Volk

Ein Komplexitäts-Problem wohnte auch der Initiative “Kostenbremse im Gesundheitswesen” inne, welche die Mitte-Partei lanciert hatte: Erstens war sie bereits im Konjunktiv gedacht, hätte also erst unter gewissen Voraussetzungen Wirkung entfaltet. Zweitens forderte sie unspezifische Massnahmen – von genau jenen Institutionen und Verbänden, die bis heute keine Lösungen für die Kostenexplosion im Gesundheitswesen erarbeiten konnten. 

Und drittens operierte sie vollständig im Raum der Politik, weit weg vom Portemonnaie der Bürger:innen, weit weg auch von den Erfahrungen der Patient:innen. Sie erinnerte damit eher an einen Vorstoss im Parlament. Das Volk war dafür die falsche Adresse. 

Entsprechend nahm die Kampagne auch nie richtig Fahrt auf. Es schien, dass nicht einmal die eigenen Partei-Exponent:innen überzeugt hinter der Idee von Mitte-Präsident Gerhard Pfister standen. Bezeichnend dafür war: Als wir bei Let’s Talk eine Diskussion zur Initiative planten, erhielten wir über ein Dutzend Absagen von Mitte-Politiker:innen.

Apotheke
Keystone / Christian Beutler

6. Der Problemdruck bleibt und wächst

Die Schweiz gehört zwar zu den Ländern, die am meisten Geld für das Gesundheitswesen ausgeben, nämlich zwischen 11 und 12 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Wenn das Wirtschaftswachstum anhält, hat der Staat aber die Mittel dazu.

Das Portemonnaie der Bürger:innen ist hingegen weniger dehnbar. Sie bezahlen rund 60% der Gesundheitskosten. Auf einkommensschwache Haushalte bleibt der Druck hoch, auch mit dem Gegenvorschlag, der nun in Kraft tritt und Kantone, die bei der Vergabe von Prämienverbilligungen zurückhaltend sind, in die Pflicht nimmt

Dass die Schweiz ihre Gesundheitskosten in den Griff kriegen muss, zweifelt niemand an. Es mangelt auch nicht an Ideen. Umverteilung von reich zu arm bleibt eine Option, vor allem für die politische Linke. Rechts und in der Mitte des politischen Spektrums ist die Spitaldichte ins Visier geraten. Und es entstand die Idee, dass die Spitalplanung vom Bund übernommen werden muss, da die Kantone nur für sich schauten.

Die deutliche Ablehnung am Sonntag hat die Diskussion also nicht beendet, sondern erneut lanciert. Das Grundsatz-Problem dabei bleibt: Für alle angedachten Reformen finden sich bisher keine politischen Mehrheiten. Im 90 Milliarden-Markt des Schweizer Gesundheitswesens lobbyieren viele Akteur:innen. Gemeinsam haben sie Volk und Parlament in der Hand.

Editiert von Mark Livingston

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