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«Serbien realisiert, dass Kosovo ein Staat ist»

Reuters

Am Dienstag feiert Kosovo, der jüngste Staat der Welt, seinen ersten Geburtstag. Ministerpräsident Hashim Thaci, der einst als anerkannter Flüchtling in der Schweiz lebte, hatte vor einem Jahr die Unabhängigkeit Kosovos ausgerufen.

Der 40-jährige Regierungschef verlangt jetzt die Anerkennung seines Landes durch Serbien. Er bietet Belgrad diplomatische Beziehungen an, wie Thaci im Gespräch mit swissinfo erläutert.

swissinfo: Die Republik Kosovo ist ein Jahr alt – wie geht es dem Baby?

Hashim Thaci: Es wächst und wird stärker. Und es ist sehr gesund.

swissinfo: Ihr Land ist aber bislang von nur gerade 54 Staaten anerkannt worden.

H.T.: Zuerst danke ich allen Ländern, die Kosovo als Staat anerkannt haben. Viele Länder sind noch im Anerkennungsprozess. Ich respektiere die Verfahren von anderen Ländern.

Die Mehrheit der Staaten der Welt hat versprochen, uns anzuerkennen. Doch ich kann Ihnen keine exakten Daten geben, denn die Entscheidungen werden von diesen Ländern getroffen und basieren auf deren nationalen Interessen.

swissinfo: Auf Betreiben Serbiens untersucht der Internationale Gerichtshof in Den Haag, ob Ihre Unabhängigkeitserklärung rechtens war oder nicht. Was machen Sie, wenn es eine für Kosovo negative Entscheidung gibt?

H.T.: Ich will mich am Gerichtshof nicht einmischen. Ich will nicht, dass dieser Fall eine politische Färbung bekommt. Die Entscheidung wird von uns respektiert und beurteilt werden.

swissinfo: Etwa 130’000 Serben leben in Ihrem Land mit insgesamt rund zwei Millionen Einwohnern. Wie wollen Sie das Vertrauen der Kosovo-Serben gewinnen?

H.T.: Die Serben gehören dem Parlament und der Regierung an, die ich führe, sie sind Teil unserer Gesellschaft. Ihre Rechte sind garantiert und werden respektiert durch die Verfassung. Kosovo ist das Heimatland all seiner Bürger.

swissinfo: Erwarten Sie, dass Serben bei den neu gegründeten Kosovo-Sicherheitskräften mitmachen werden?

H.T.: Bereits jetzt machen Serben über sechs Prozent der Angehörigen unserer Sicherheitskräfte aus. Das heisst, diese sind bereits multiethnisch. Auch in unserem Geheimdienst arbeiten Serben mit, genauso in allen Institutionen auf zentraler und lokaler Ebene.

swissinfo: Welches Verhalten erwarten Sie von Belgrad gegenüber Kosovo?

H.T.: Dass Serbien Kosovo so bald wie möglich als Staat anerkennt. Das wäre das Beste für Frieden und Stabilität in der Region und das Beste für unsere beiden Länder.

Wir sind bereit, bilaterale diplomatische Beziehungen mit Serbien aufzunehmen. Pristina würde gerne eine Botschaft in Belgrad haben, damit wir als zwei normale Staaten funktionieren können.

swissinfo: Aber ist das möglich mit der derzeitigen serbischen Regierung?

H.T.: Es ist nicht ein Problem der Regierung. Diese ist gewillt, die Republik Kosovo anzuerkennen, aber sie ist eine Geisel der anti-albanischen Ansichten in Belgrad.

swissinfo: Sie denken also tatsächlich, dass in der serbischen Regierung der Wille vorhanden wäre, Kosovo anzuerkennen?

H.T.: Serbien realisiert, dass Kosovo ein Staat ist. Es wird der Tag kommen, an dem diese Entscheidung getroffen wird. Ich würde es begrüssen, das schon bald zu sehen.

swissinfo: Wann werden Sie die Kontrolle über den fast nur von Serben bewohnten Nordteil der Stadt Mitrovica und das Nordkosovo übernehmen?

H.T.: Die EU-Rechtsstaatsmission Eulex operiert nun auf dem ganzen Territorium Kosovos. Es ist eine Herausforderung, die aber überwunden werden kann.

swissinfo: Sind Sie bereit, Gewalt anzuwenden, um den Norden zurückzubekommen?

H.T.: Nein, unter keinen Umständen. Jede Absicht, Gewalt anzuwenden, um die Situation in Mitrovica zu regeln, wäre abenteuerlich.

swissinfo: Warum lässt denn Kosovo den Norden nicht einfach ziehen? Sie hätten ein grosses Problem los.

H.T.: Es geht hier nicht einfach um den Abschluss eines Geschäfts. Die Zukunft von Mitrovica ist die Zukunft von Kosovo.

swissinfo: Wie stark ist Kosovo von der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen?

H.T.: Kosovo ist kein isoliertes Land, sondern ein Teil der Weltwirtschaft. Die Krise hat sich bereits auf unser Land ausgewirkt, vor allem durch den Einfluss auf unsere Diaspora. Doch auch ausländische Direktinvestitionen sind betroffen. Das Bankensystem ist jedoch sehr stabil.

swissinfo: Wie wollen Sie die horrende Arbeitslosigkeit im Land bekämpfen, besonders unter Jugendlichen?

H.T.: Im Jahr 2008, das wir als sehr erfolgreich betrachten, schufen wir Tausende von neuen Jobs. Ich glaube daran, dass wir in diesem Jahr damit weiterfahren werden.

swissinfo: Wer ist für Kosovo als Partner wichtiger – die EU oder die USA?

H.T.: Die Beziehungen zwischen Pristina und Washington sind exzellent. Ich bin stolz, Premierminister des pro-amerikanischsten Landes der Welt zu sein. Aber Kosovo ist ein Teil der europäischen Familie. Und wir wollen Mitglied der EU und der Nato werden.

swissinfo: Und die bilateralen Beziehungen zur Schweiz?

H.T.: Diese Beziehungen sind fantastisch. Die Schweiz war eines der ersten Länder, das die Unabhängigkeit Kosovos anerkannt hat. Wir haben eine starke Brücke zur Schweiz.

Ich lebte selbst dort, habe beste Erinnerungen an diese Zeit. Und vielleicht wird ja Kosovo in Zukunft die Schweiz unserer Region. Ich möchte noch einmal der Schweizer Bevölkerung und der Regierung für deren andauernde Unterstützung danken.

swissinfo: Sie haben in der Schweiz studiert und gelebt. Hilft Ihnen das bei der Regierungsarbeit?

H.T.: Ich lernte sehr viel in der Schweiz, aber die Frage, ob man ein guter Premierminister ist oder nicht, hängt nicht nur davon ab, wo man gelebt hat. Doch die Erfahrungen in der Schweiz, besonders jene, die ich an der Universität Zürich sammeln konnten, waren sehr nützlich für mich.

swissinfo-Interview: Norbert Rütsche, Pristina

Bevölkerung Kosovos: 2,1 Mio. (gemäss Schätzung von 2007).

Fläche: 10’887 km2 (Schweiz: 41’285 km2).

Offizielle Sprachen: Albanisch und Serbisch.

Ethnische Gruppen: 92% Albaner, 5% Serben, 3% andere (Roma, Sinti, Ashkali, Ägypter).

In der Schweiz leben zwischen 170’000 und 190’000 Kosovarinnen und Kosovaren. Das entspricht rund 10% der Bevölkerungszahl in Kosovo.

Mit seiner Demokratischen Partei Kosovos (PDK) gewann Hashim Thaci die letzten Parlamentswahlen vom 17. November 2007 und wurde am 9. Januar 2008 zum Ministerpräsidenten Kosovos gewählt. Nur gut einen Monat später, am 17. Februar 2008, rief Thaci im Parlament in Pristina die Unabhängigkeit Kosovos aus.

Thaci ist einer der Mitbegründer der früheren Kosovo-Befreiungsarmee UCK, die einen bewaffneten Kampf gegen die serbische Armee und Polizei in Kosovo führte. In den Jahren des offenen Krieges von 1998/99 war Thaci der politische Anführer der UCK.

Bei der Konferenz von Rambouillet vom Februar/März 1999, an der die Internationale Gemeinschaft eine friedliche Beilegung des Kosovo-Konfliktes zu erreichen suchte, stand Hashim Thaci an der Spitze der kosovo-albanischen Delegation. Nach dem Scheitern der Konferenz begann die Nato mit Luftangriffen gegen serbische Ziele.

Bereits von 1990 bis 1993 war Thaci als einer der Anführer der Studentenbewegung im Widerstand gegen die serbische Staatsmacht aktiv. 1995 wurde ihm in der Schweiz politisches Asyl gewährt, anschliessend studierte er an der Universität Zürich Südosteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft. Von Zürich aus war Thaci massgeblich am Aufbau der UCK beteiligt. 1998 kehrte er nach Kosovo zurück.

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