Referendum oder Politik unter dem Damoklesschwert
In der Schweiz hat das Volk das letzte Wort. Nicht nur bei Verfassungsänderungen, sondern auch bei neuen Gesetzen. Das Recht des Volksvetos ist einer der wichtigsten Pfeiler im politischen System der Schweiz. Es ist für Politiker mühsam und macht den Gesetzgebungsprozess aufwendiger. Dafür ermöglicht die permanente Drohung des Volksvetos nachhaltige und breit abgestützte Lösungen.
Ein Bergbauer im Kanton Uri wird nach seinem Abstimmungsverhalten gefragt. Der Bauer antwortet: «Ich stimme immer Nein – und bin bisher gut damit gefahren.»
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Diesen Witz erzählte das Urner Politik-Urgestein Franz Steinegger einmal in einem Zeitungsinterview. Kurz zuvor war das Reformpaket zur Altersvorsorge in der Volksabstimmung gescheitert.
Im Parlament hatte die Reform noch passiert, wenn auch nur hauchdünn: Eine einzige Stimme machte die Differenz. Das reichte jedoch nicht für eine Mehrheit an der Urne.
Zurück auf Feld 1
Ob jene, die wie der Urner Bergbauer aus Prinzip Nein stimmen, den Ausschlag gaben für das Scheitern der Vorlage, ist zu bezweifeln. Die Anekdote zeigt aber exemplarisch: Das schweizerische System der direkten Demokratie verlangt von Politikern einen langen Atem.
Und bisweilen ein starkes Nervenkostüm. Es reicht nicht, die Regierung oder die Parteien im Parlament für einen Vorschlag zu gewinnen. Sie müssen stets auch an die Stimmbevölkerung denken. Diese kann ein Projekt versenken, wenn sie davon nicht überzeugt ist – so wie bei der Rentenreform. Mit dem Nein an der Urne wurden sieben Jahre Arbeit im Parlament mit einem Schlag weggefegt.
Beständige Entscheide
Das Referendum kennt in der Schweiz zwei Formen: die obligatorische und die fakultative. Dem obligatorischen Referendum unterstehen Verfassungsänderungen sowie Beitritte zu supranationalen Organisationen. Diese Geschäfte müssen zwingend dem Stimmvolk zur Abstimmung vorgelegt werden.
Dem fakultativen Referendum unterstehen Gesetze sowie gewisse Bundesbeschlüsse und internationale Verträge. Sie kommen dann zur Abstimmung, wenn innert drei Monaten mindestens 50’000 Stimmbürger dies verlangen.
Die Institution des Referendums ist mehr als eine zusätzliche Mitsprachemöglichkeit für die Bürger. Sie hat massgebliche Auswirkungen auf den Gesetzgebungsprozess. Politiker müssen nicht nur im Parlament Allianzen schmieden und taktieren, um einem Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen.
Sie müssen darüber hinaus stets überlegen, ob eine Lösung auch eine Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen vermag. Dies hat zur Folge, dass eine breite Diskussion geführt wird, in der auch jene Stimmen gehört werden, die im Parlament nicht vertreten sind.
Mühsamer, dafür nachhaltiger
Diese zusätzliche Hürde macht die Gesetzgebung langwieriger und komplizierter. Dafür sind Entscheide, die von einer Mehrheit der Stimmbürger gefasst wurden, relativ beständig und werden nicht gleich wieder gekippt, sobald sich zum Beispiel ein Wechsel in der Regierung ereignet.
Seit Gründung des Schweizer Bundesstaats im Jahr 1848 wurde über mehr als 200 Vorlagen obligatorisch abgestimmt. Davon wurden mehr als drei Viertel angenommen.
Dem fakultativen Referendum, das seit 1874 existiert, unterstanden seither 2459 Gesetzesänderungen, die das Parlament beschloss. Gegen 177 davon kamen genug Unterschriften zusammen für eine Volksabstimmung. In lediglich 78 Fällen lehnte eine Mehrheit das Gesetz ab. Die meisten Dinge, die das Parlament beschliesst, treten also ohne Volksabstimmung in Kraft; und wenn es eine Abstimmung gibt, folgen die Bürger in den meisten Fällen dem Parlament.
Präventive Wirkung
Der Einfluss des Referendumsrechts beschränkt sich aber nicht auf die Vorlagen, die zur Abstimmung kommen. Denn oft führt bereits die Aussicht auf eine Volksabstimmung dazu, dass die Parlamentsmehrheit potenziellen Gegnern entgegenkommt. Entweder, um sie davon abzuhalten, das Referendum zu ergreifen. Oder, um die Opposition in einer Abstimmung so klein wie möglich zu halten.
Im Fall der Rentenreform wurde dies für die Mitte-Links-Mehrheit im Parlament zu einem Balanceakt. denn die Vorlage wurde von zwei Seiten bekämpft: Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP, mitte-rechts) kämpften dagegen, dass die AHV trotz finanzieller Schieflage ausgebaut und die Renten um 70 Franken pro Monat erhöht werden sollten.
Die Gegner von ganz links wollten ihrerseits verhindern, dass das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre und damit auf das gleiche Niveau wie das der Männer angehoben werden sollte.
Serie «Toolbox»
Die Schweiz ist eine Kombination von indirekter und direkter Demokratie. Letztere ist so stark ausgebaut wie in keinem anderen Land. Dies zeigt sich u. a. in mehr als 620 nationalen Abstimmungen – «Weltrekord».
In einer #DearDemocracy-Serie beleuchtet Lukas Leuzinger die wichtigsten und grundlegenden Instrumente, Mechanismen und Prozesse der direkten Demokratie in der Schweiz.
Der Autor studierte Politikwissenschaften an der Universität Zürich. Er arbeitet er als Journalist und ist Mit-Betreiber des Politblogs «Napoleon’s Nightmare».
Eine neue Reform zu erarbeiten, die vor dem Volk Bestand hat, wird nicht leicht sein. Dass es möglich ist, zeigt etwa das Beispiel des Energiegesetzes, über das im Mai 2017 abgestimmt wurde. Die Vorlage, die den Ausstieg aus der Atomenergie und die Förderung erneuerbarer Energien vorsah, stiess in den bürgerlichen Parteien von Mitte/Rechts auf Skepsis.
Kontroll-Trumpf in der Hinterhand
Bei der Beratung im Parlament kamen die linken und Mitte-Parteien den Forderungen vonseiten der Wirtschaft teilweise entgegen, etwa mit zusätzlichen Geldern für energetische Sanierungen. Das war der SVP zu wenig und sie ergriff das Referendum. Aber eine Mehrheit der FDP machte den Schwenk und stellte sich hinter das Gesetz. Dieses schaffte schliesslich in der Volksabstimmung eine komfortable Mehrheit.
Das Referendumsrecht wirkt auf die Politik wie ein Damoklesschwert. Ein Schwert, das Wirkung zeigt, ohne dass es eingesetzt werden muss. Letztlich ermöglicht die direkte Demokratie so eine zusätzliche Kontrolle der gewählten Politiker durch ihre Wähler.
Dass in der Schweiz das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die demokratischen Institutionen höher ist als in anderen Ländern, dürfte wesentlich damit zusammenhängen. Vertrauen ist gut, aber es fällt dem Volk leichter, Regierung und Parlament zu vertrauen, wenn es noch einen Kontroll-Trumpf in der Hand hält.
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