Shirin Ebadi kritisiert Micheline Calmy-Reys Iran-Reise
Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi übt in Genf Kritik an Micheline Calmy-Reys Verhalten während deren Reise in den Iran. Ein Land, das laut der iranischen Anwältin und Menschenrechts-Verfechterin immer häufiger gegen die Menschenrechte verstösst.
Shirin Ebadi, die 2003 den Friedensnobelpreis erhielt, nahm am Montag in Genf im Rahmen der 8. Sitzung des UNO-Menschenrechtsrates an einer Podiumsdiskussion über Menschenrechtsverletzungen in Iran teil.
Dabei kritisierte sie auch das Verhalten der Schweizer Aussenministerin während deren Besuch im Iran. Calmy-Rey hatte während eines eintägigen Besuchs im März in Teheran Gespräche über Irans Nuklearpolitik und über Menschenrechte geführt sowie der Unterzeichnung eines Gasliefervertrags zwischen der staatlichen iranischen Gasliefergesellschaft und der privaten Schweizer Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg beigewohnt.
Der Abschluss des Gasliefervertrags führte zu heftigen Reaktionen, vorallem aus Israel, den USA und von jüdischen Organisationen.
Calmy-Rey wies die Kritik zurück und erklärte, der Vertrag habe eine strategische Bedeutung für die Schweiz. Sie wies auch die Vorwürfe zurück, wonach die iranischen Behörden sie benutzt hätten, um internationalen Sanktionen zu entgehen.
swissinfo: Das Tragen des Kopftuches durch Micheline Calmy-Rey und die Menschenrechts-Hochkommissarin Louise Arbour bei ihren Visiten in Iran hat in den internationalen Medien zu reden gegeben. Was sagen Sie dazu?
Shirin Ebadi: Es stört mich nicht, wenn sie den Kopf bedecken. Was mich hingegen enttäuscht hat, ist die Haltung von Micheline Calmy-Rey während ihres Besuchs. Sie kennt die Menschenrechtslage bei uns. Ich hatte sogar Gelegenheit, mit ihr darüber zu sprechen.
Vor Ort jedoch hörte ich sie kein einziges Mal die Menschenrechtslage erwähnen. Mehr noch: Micheline Calmy-Rey wollte nicht einmal die Verfechter von Freiheiten treffen, auch mich nicht. Alles, was sie interessierte, waren die kommerziellen Verträge.
Louise Arbour nahm eine völlig andere Haltung ein. Von Beginn weg traf sie sich mit Vertretern von Nichtregierungs-Organisationen, sie besuchte Frauengefängnisse und zeigte, dass die Menschen auch wichtig sind.
swissinfo: In Ihrem letzten Bericht sprechen Sie von einer Verschlechterung der Menschenrechtslage in Iran. Worum geht es genau?
S. E.: In Iran wird jegliche Kritik gleichgesetzt mit «einer Aktion gegen die nationale Sicherheit». Aus diesem Grund nehmen die Verhaftungen von Journalisten, Studierenden und Frauen zu. Diese Anschuldigung gilt sogar für eine Frau, die sich dagegen wehrt, dass sich ihr Mann eine zweite Frau nimmt.
Zeitungen werden geschlossen, Führer der Bahaï-Gemeinde (Religion, die im 19. Jahrhundert in Persien entstand) werden verhaftet. Und dies immer wegen «Aktionen gegen die nationale Sicherheit».
Iran hat 1975 den Pakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte ratifiziert sowie jenen über zivile und politische Rechte, der unter anderem die Prügelstrafe und entwürdigende Strafen wie Folter verbietet. Die Regierung praktiziert jedoch weiterhin Peitschenhiebe, Amputationen und Steinigungen.
Während die Hinrichtungen in China im Jahr 2007 um 70% zurückgingen, nahmen sie in Iran im Vergleich zu den vorangehenden Jahren um 60% zu. Sogar Blasphemie (Gotteslästerung) wird mit dem Tode bestraft.
Man muss wissen, dass in Iran Hinrichtungen von Minderjährigen legal sind. Gemäss Gesetz ist ein Mädchen ab neun Jahren, ein Junge ab 15 für ein Verbrechen verantwortlich. Heute befinden sich mehr als hundert Jugendliche unter 18 Jahren in den Todeszellen.
swissinfo: Mehr als 65% der Hochschuldozenten in Iran sind Frauen. Wie wird sich das auf die Gesellschaft auswirken?
S. E.: Das bedeutet zuallererst, dass die Frauen bei uns gebilderter sind als die Männer. Es hat zwar Reformen im Familienrecht gegeben, aber diese sind ungenügend. So wurde das Kindersorgerecht zugunsten der Mutter abgeändert, und misshandelte Frauen können die Scheidung verlangen.
Aber die am Tag nach der Revolution von 1979 ratifizierten Gesetze, welche die Freiheit der Frauen einschränken, sind noch immer in Kraft. Frauen in Iran gelten zweimal weniger als Männer, was sich zum Beispiel in der Festlegung von Schadenersatz bei Unfällen zeigt oder vor Gericht, wo die Zeugenaussage eines Mannes soviel wiegt wie jene von zwei Frauen.
swissinfo: Kann die Scharia – Gesetz nach Koran – Ihrer Meinung nach die Quelle iranischen Rechts sein?
S. E.: Es ist der Wille des Volkes, die Quelle des Gesetzes zu bestimmen. Wenn aber die Iraner die Scharia wollen, muss sie mit der Achtung der Freiheit vereinbar sein.
Eine korrekte Leseart der Scharia muss erlauben, die Diskriminierungen zwischen Mann und Frau zu beenden und gleichzeitig unsere muslimische Identität respektieren.
Zur Erinnerung: Zu Beginn der iranischen Revolution machten die Mullahs das islamische Gesetz geltend, um zu verhindern, dass das Sorgerecht für die Kinder den Frauen anvertraut wird. Nach zwanzigjährigem Kampf wurde dieses Gesetz endlich reformiert.
swissinfo und Carole Vann
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
Micheline Calmy-Rey reiste am 16. und 17. März nach Iran, wo sie den iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad traf.
Laut offiziellen Angaben verfolgte sie drei Ziele: Das Dossier über Nuklear-Politik zur Sprache bringen, die Menschenrechtsfrage ansprechen und der Unterzeichnung eines Gasliefervertrags beiwohnen, der zwischen Iran und einer schweizerischen Elektrizitätsgesellschaft abgeschlossen wurde.
Im Rahmen dieses Besuchs in Teheran hat die Vorsteherin der Schweizer Diplomatie ihren iranischen Amtskollegen Manoucher Mottaki getroffen, um die Menschenrechtsfragen zu thematisieren.
Sie seien übereingekommen, dass im Dialog, den die beiden Staaten vor fünf Jahren begonnen hatten, konkrete Fragen angesprochen werden müssten. Mit dieser Zielsetzung sei eine Kommission beauftragt worden, das nächste Treffen vorzubereiten.
Mit ihrem Amtskollegen habe Micheline Calmy-Rey auch die Todesstrafe – insbesondere gegen Minderjährige – und Körperstrafen, wie Steinigungen oder Amputationen, zur Sprache gebracht.
Die Schweizer Aussenministerin habe auch die Rhetorik kritisiert, die Teheran gegenüber Israel anwende. Micheline Calmy-Rey habe unterstrichen, dass es inakzeptable sei für die Schweiz, dass ein Mitglied der UNO das Existenzrecht eines andern Staates verneine.
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