Siegreicher Islamismus gibt sich pragmatisch
Aus den ersten freien Wahlen im arabischen Frühling gingen islamistische Parteien als grosse Sieger hervor. In Tunesien, Marokko und Ägypten kamen die Muslimbrüder an die Macht, was in Europa Ängste auslöste. Der Schweizer Politologe Patrick Haenni relativiert.
Ein Jahr nach Beginn der demokratischen Revolutionen, welche die arabische Welt zutiefst verändert haben, sind islamistische Parteien als klare Sieger aus den Wahlen hervorgegangen, angeheizt durch grösstenteils friedliche Demonstrationen von Bürgern und jungen Leuten.
Patrick Haenni, Mitarbeiter am Institut Religioscope in Freiburg, führt seit Jahren Feldforschungen vor Ort über die islamistische Bewegung durch.
swissinfo.ch: Ist die Angst im Westen nach den Wahlerfolgen der Islamisten in Tunesien und Ägypten gerechtfertigt?
Patrick Haenni: Die «westliche Angst» vor dem Islamismus muss relativiert werden. Denn die Haltung gegenüber den Islamisten ist geteilt. In politischen Kreisen wird auch darauf geachtet, wie die Islamisten jetzt mit der Macht umgehen werden.
Ausserdem gibt es diese Angst nicht nur im Westen. Auch in arabischen Ländern sorgen die Islamisten bei einem Teil der Bevölkerung und der Elite für Beunruhigung.
Im letzten Jahr hat sich die politische Kluft in den von ihren Diktatoren befreiten Ländern verändert.
swissinfo.ch: In welchem Sinn?
P.H.: In Tunesien und Ägypten gab es zuerst eine Kluft zwischen Revolutionären, die einen radikalen Wechsel der Institutionen anstrebten, und einem konservativeren Lager, das für eine gewisse Kontinuität der Institutionen kämpfte. Dazu gehörten die Muslimbrüder, die Überbleibsel des alten Regimes und vor allem das Militär. In Libyen wurde das konservative Lager übrigens vom Westen militärisch unterstützt.
Zu einem späteren Zeitpunkt polarisierte sich das Lager auf Identitätsfragen und insbesondere auf den religiösen Status der künftigen Verfassungen in den von den Diktatoren befreiten Staaten.
In dieser zweiten Phase standen die Islamisten dann quasi allen anderen politischen Kräften gegenüber, die Armee befand sich in Opposition mit den Islamisten.
Das bedeutet, dass es äusserst schwierig ist, Bewegungen zu beurteilen, die sich in einer Phase der raschen Entwicklung befinden und praktisch Teil des politischen Machtspiels sind.
In Ägypten oder auch in Tunesien ist es kaum möglich, mit einer Sittenpolizei an den Stränden und einem Alkoholverbot die Wirtschaft und den Tourismus zu stützen, wie das gewisse salafistische Kreise vorschlagen.
Heutzutage wird der politische Islam Kompromisse machen müssen zwischen der Achtung eines gewissen Dogmas und den Geboten eines guten wirtschaftlichen Regelsystems.
Die Muslimbrüder entschieden sich dafür, sich auf dem Gebiet der Effizienz und verantwortungsvollen Führung zu profilieren. Sie waren sich bewusst, dass dies Konzessionen erfordert. Aber auch die Salafisten passten sich an.
swissinfo.ch: Die grosse Herausforderung für die Islamisten ist also, die Erwartungen ihrer Wählerschaft zu erfüllen, vor allem im sozialen und wirtschaftlichen Bereich?
P.H.: Entgegen der islamistischen Denkweise der 1980er-Jahre entwickelten die Muslimbrüder einen formalrechtlichen Ansatz, der von einer grossen islamistischen Revolution weit entfernt ist. Sie wissen, dass ihnen die Urnen gut gesinnt sind und sie an ihren Taten gemessen werden.
Alle Parteien, die sich auf die Muslimbrüder berufen, wie etwa die Ennahda in Tunesien oder die PJD, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung in Marokko, sind für das türkische Modell, auch wenn sie es anders interpretieren.
Mit anderen Worten, diese politischen Kräfte nehmen an, dass man Macht und Legitimität durch Effizienz in der Führung des Staates erlangt.
Die grosse Herausforderung, vor allem in Ägypten, wird die Schaffung eines riesigen Beamtenapparats sein, der noch in der Logik des alten Regimes funktioniert.
swissinfo.ch: Werden sich die Islamisten mit den heutigen Wirtschaftsführern zusammentun?
P.H.: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der Türkei und den arabischen Ländern, die ihre Führer gestürzt haben: Die türkische Partei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) war der politische Ausdruck eines kleinen provinziellen Bürgertums, einer Klasse von islamistischen Händlern, die wirtschaftlich den Grosskapitalismus der Hauptstadt bekämpfte.
In Ägypten und Tunesien gibt es keinen islamistischen Kapitalismus. Sogar in Marokko repräsentiert die PJD nur eine kleine Mittelschicht, der Grossteil der Wirtschaft bleibt in den Händen des Königshauses.
Die Beziehungen zwischen den neuen Kräften und den wirtschaftlichen Kreisen, die mit den ehemaligen Regimes verbunden waren oder nicht, werden die wirtschaftliche und soziale Ausrichtung ganz klar prägen. In dieser Perspektive kann man sich durchaus vorstellen, dass plötzlich Islamisten aus dem politisch rechten oder linken Feld auftauchen.
swissinfo.ch: Könnte die Stärkung der Islamisten auch als eine Art Behauptung gegenüber dem Westen verstanden werden?
P.H.: Die Islamisten sind sich ganz genau bewusst, dass sie sich nicht an der Macht halten können, wenn sie auf Konfrontationskurs mit dem Westen gehen. Alle ihre Beschlüsse – privat wie auch öffentlich – zeigen, dass sie die internationalen Engagements ihrer vorherigen Regierungen respektieren. Die Idee ist, den Ball flach zu halten.
Kommt dazu, dass die meisten Leute, die ihre Stimme den Islamisten gegeben haben, diese weniger aus religiösen Gründen gewählt haben, sondern weil diese bislang nichts mit der Macht zu tun hatten.
Die Frauen – sehr engagiert in den Revolutionen – tragen immer häufiger Schleier. Aber sie haben mehr Freiheiten und können ihre Ehemänner oder verantwortungsvolle Jobs selber auszuwählen.
Die arabischen Gesellschaften modernisieren sich rascher, als man sich das vorstellen kann, und dies geschieht zum Teil gemeinsam mit den Religiösen. Diese Vision kommt in den USA sehr gut an. In Europa viel weniger.
In diesem Zusammenhang wird das Thema der persönlichen Freiheiten eine der nächsten grossen Polemiken in der arabischen Welt sein. Es stellen sich Fragen wie jene der Konvertierung oder des Schicksals religiöser Minderheiten.
Denn auch in diesem Bereich ändert sich die Landkarte: Mit dem fast gänzlichen Verschwinden des Christentums in gewissen Ländern oder der Konvertierung zum Protestantismus in anderen wie etwa Algerien, mit dem Matchzuwachs für die Schiiten in sunnitisch dominierten Ländern, dem Anspruch auf Gleichbehandlung der koptischen Christen in Ägypten, mit der Forderung nach Zivilehe oder dem Aufkommen von Spannungen um religiöse Gemeinschaften wie etwa der Bahai in Ägypten.
Die Islamisten sind für die Demokratie, aber gegen den Liberalismus, wenn es um die Ausweitung der öffentlichen und religiösen Freiheiten geht. Auf dieser Ebene wird es in den nächsten Jahren zu Spannungen mit dem Westen kommen.
In Tunesien dauerte die Revolution 29 Tage. Sie führte 2011 zur Flucht von Präsident Zine Ben Ali. Die Unterdrückung des friedlichen Aufstandes forderte den Tod von etwa 300 Menschen und rund 700 Verletzte.
In Ägypten kam es in den 18 Tagen des Aufstandes gegen Präsident Hosni Mubarak zu 800 Toten und 6000 Verletzten. Ende 2011 forderten sporadische Zusammenstösse zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften mindestens 81 Tote und mehrere hundert Verletzte.
In Syrien führte die Unterdrückung der Demonstrationen gegen Präsident Bashar Al Assad im fast gänzlich abgeriegelten Land schätzungsweise zu mehr als 5000 Toten.
Im Jemen wurden bei den zuerst friedlich durchgeführten Demonstrationen gegen Präsident Ali Abdullah Saleh mindestens 2700 Demonstrierende, Stammesangehörige, Deserteure, Armee- und Polizeiangehörige getötet und 24’000 Menschen verletzt.
In Libyen schätzen die ehemaligen Rebellen die Zahl der Kriegsopfer auf gegen 50’000.
In der gesamten Region führte der arabische Frühling zu einem Anstieg der Benzin- und Nahrungsmittelpreise, zu einer Verknappung gewisser Produkte auf dem Markt, zu Jobverlusten, Firmenkonkursen und einem Misstrauen unter Investoren.
Die Volkswirtschaften von Ägypten, Syrien und Jemen haben besonders unter den Veränderungen gelitten.
(Quelle: UNO und Agenturen)
(Übertragen aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein und Christian Raaflaub)
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