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«Skirennfahren ist und bleibt eine Risikosportart»

Verzweifelt wehrt sich Daniel Albrecht gegen den Sturz - vergebens. Reuters

Aksel Lund Svindal, Matthias Lanzinger, Scott Macartney und jetzt Daniel Albrecht: In den letzten 15 Monaten sind vier Skirennfahrer schwer verunglückt. Hans Spring, seit 1976 Leitender Arzt des Schweizer Herren-Skiteams, analysiert die Vorfälle.

Albrechts schlimmer Sturz von Donnerstag auf der Kitzbüheler «Streif» machte wieder einmal bewusst, auf welch schmalem Grat zwischen Starruhm und Verderben sich die Skirennfahrer bewegen.

Und der Walliser, der mit schweren Kopfverletzungen im Spital von Innsbruck liegt, ist ja kein Hinterbänkler, sondern Weltmeister.

An gleicher Stelle erwischte es im Vorjahr schon Scott Macartney. Auch der Amerikaner war am Zielsprung abgehoben worden und ebenfalls mit schwerem Schädel-Hirntrauma im Spital gelandet. Heute fährt er wieder.

Spektakel versus Sicherheit

Die österreichische Ski-Legende Karl Schranz sprach nach Albrechts Sturz Klartext: «Jetzt wäre es an der Zeit, mit den Sprüngen vor dem Ziel, wo die Fahrer schon müde sind, endgültig aufzuhören.»

Dem pflichtet Hans Spring bei. Für den leitenden Arzt des Schweizer Herren-Skiteams – er hat die Funktion seit 32 Jahren inne! – ist klar, dass keine gefährlichen Sprünge eingebaut werden dürfen.

Die Organisatoren in Kitzbühel und die FIS als Weltverband müssten den Zielsprung überdenken, steht für Spring fest. Gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass die Stelle nach Maccartneys letztjährigem Sturz verändert worden sei. «Der Sprung ist jetzt mit einer kleinen Kante besser definiert, aber eben immer noch ein Sprung.»

Keine statistische Häufung

Albrechts böser Sturz ereignete sich gut zehn Monate nach dem letzten schlimmen Vorfall im Weltcup: Im letzten März musste dem Österreicher Matthias Lanzinger nach einem schweren Sturz der linke Unterschenkel amputiert werden. Und im November 2007 traf es den Norweger Aksel Lund Svindal, der sich bei einem Sturz tiefe Schnittwunden zugezogen hatte. Erst nach einem Jahr kehrte er zurück.

Bei der jüngsten Unfallreihe handle es sich um sporadische Vorfälle. «Es gibt keine statistische Häufung schwerer Unfälle», hält Spring fest. Als Verharmlosung ist dies allerdings nicht gedacht. «Schlagzeilen wie ‹Weltmeister Albrecht im Koma› schaden dem Skirennsport und dem Weltverband FIS», sagt er.

Skirennsport sei aber eine Risikosportart, bei der immer etwas passieren könne. «Bei einem Sturz mit 140 Kilometern pro Stunde ist relativ klar, dass dem Fahrer etwas passiert», so Spring.

Zur Klarstellung: Kreuzbandrisse, wie sie heutzutage bei den Fahrerinnen und Fahrern leider quasi an der Tagesordnung sind, sind hier nicht gemeint.

Geschwindigkeit als Hauptfaktor

In der Analyse der Unfälle von Svindal, Lanzinger, Maccartney und jetzt Albrecht sortiert der Schweizer Experte mangelhafte Sicherheitsmassnahmen oder die moderne Entwicklung auf dem Materialsektor als entscheidende Ursachen aus.

«Es mag brutal tönen, aber es handelte sich jeweils um Fahrfehler. Albrecht war auf dem Sprung in Rücklage geraten und wurde so richtig abgehoben», sagt Spring, der so ziemlich alle schweren Stürze der letzten Jahrzehnte in seinem Kopf gespeichert hat.

Weiter hält er fest, dass keiner der vier Fahrer in ein Objekt am Streckenrand geprallt sei, sondern alle auf die Piste stürzten.

«Bei den Risikofaktoren spielt die Geschwindigkeit eine klare Rolle», verdeutlicht er. Zur Illustration: Den Haneggschuss, die schnellste Passage am Lauberhorn, sausen die Abfahrer mit fast 150 Sachen hinunter. «Bei diesen Tempi wirkt sich ein Fehler, sei es eine Rücklage oder ein Verschneider, brutal aus.»

Kein Airbag

Manche erinnern sich vielleicht noch an den Physikunterricht: Bei zunehmender Geschwindigkeit steigen die Kräfte nicht linear an, sondern exponentiell – sie «explodieren» sozusagen im Quadrat.

Bei den 130 Kilometern pro Stunde, die Albrecht beim Sturz hatte, ergibt das eine fürchterliche Aufprall-Energie. Weil die Abfahrer keinen Airbag um sich haben, ist der Körper die Knautschzone. Die Kopfverletzungen rühren daher, dass dieser Teil des Körpers trotz Helmschutz besonders exponiert ist.

Es mag fast erstaunlich anmuten, dass weder Albrecht noch Maccartney abgesehen von den Kopfverletzungen weitere gravierende Verletzungen erlitten hatten. «Dies ist eine Folge der unter dem Renndress getragenen Protektoren, welche den Fahrer wirksam zu schützen vermögen», wie Spring erwähnt.

Nicht vergleichbar

Wach sind aber auch noch die Erinnerungen an die Stürze Gernot Reinstadlers 1991 beim Zielsprung in Wengen und des Schweizers Silvano Beltrametti 2001 in Val d’Isère. Die schrecklichen Folgen: Der Österreicher zog sich tödliche Verletzungen zu, der Bündner ist seither querschnittgelähmt.

Diese Vorfälle zählt der Experte zu einer anderen Sturz-Kategorie. Reinstadler zog sich die fatalen Verletzungen zu, weil sich einer seiner Skis im Fangnetz verfing.

Jeder schwere Unfall soll zu mehr Sicherheit für die Fahrer führen, lautet die Devise der FIS. Seit dem Todessturz von Wengen 1991 dienen glatte Blachen als unmittelbare Streckenbegrenzung», erklärt Spring.

Doch auch solche Blachen konnten Beltramettis verhängnisvollen Sturz nicht mildern: Nach einem klassischen Verschneider schlitzten die Kanten seiner Skis das Material auf, worauf er über die Piste hinaus schoss und dahinter auf einen Stein prallte.

Am Baum vorbei…

Danach wurden die Blachen aus noch reissfesterem Material gefertigt. Davor befinden sich an exponierten Stellen mehrere Reihen von Fangzäunen, sogenannte B-Netze. «Solche hatten in der Olympia-Abfahrt 1998 in Nagano den Österreicher Hermann Maier abgebremst», erinnert Spring. Und ihm Gold ermöglicht, denn nur wenige Tage darauf war der «Herminator» Doppel-Olympiasieger.

Welche Konsequenzen auch immer Abfahrts-Organisatoren und FIS aus dem Albrecht-Sturz ziehen werden, sicher ist einzig, dass die Entwicklung der Sicherheitsmassnahmen nie abgeschlossen sein wird.

Massnahmen zur Verminderung der Geschwindigkeit stehen im Zentrum der Bemühungen. Diesem Trend stehen aber eine stets gesteigerte Athletik der Fahrer, bessere Pistenpräparation und besseres Material entgegen. Hans Spring verdeutlicht: «Am Lauberhorn bleibt die Fahrzeit praktisch gleich schnell, obwohl die Strecke durch mehr Bremstore verlängert wurde.»

Handlungsbedarf Ja, Notstand Nein, könnte das Fazit aus Springs Analyse lauten. «Die heutigen Sicherheitsstandards sind viel höher als früher», hält er fest. Und erzählt von seinen «ersten Jahren im Weltcup», als die Abfahrer noch unmittelbar an Bäumen oder gar Wäldchen vorbei gerast seien. Stürzen verboten, habe die simple Devise in solchen Partien gelautet. Dass es auch im heutigen Sicherheitszeitalter noch Abschnitte gibt, wo dieses Motto gilt, hat der Sturz Albrechts gezeigt.

swissinfo, Renat Künzi

Der Mediziner ist ärztlicher Direktor des Reha-Zentrums Leukerbad, das auch Medical Base von Swiss Olympic ist.

Seit 36 Jahren (!) ist Spring Leiter des sportmedizinischen Dienstes des Herrenteams der Alpinen.

Er gehört ebenfalls der medizinischen Kommission der FIS an.

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