Sommersession: Das Parlament baut an der Igel-Schweiz
Attacke auf die Entwicklungshilfe, Aufstand gegen Strassburger Richter:innen und Scharmützel um die Ukraine: Die Sommersession war keine Sternstunde der weltoffenen Schweiz. Unsere Analyse.
Was bleibt von von der Sommersession? Vier Mitglieder des Nationalrats mit guten Verbindungen zur Fünften Schweiz, Mitglieder des Auslandschweizerrats und Mitglieder der Parlamentarischen Gruppe Auslandschweizer, geben uns im Video oben Antwort.
Was auch bleibt, ist ein Bild von physischer Gewalt, ein Handgemenge zwischen zwei SVP-Nationalräten und der Bundespolizei. Letztere hatte die Aufgabe, den Besuch des ukrainischen Parlamentspräsidenten im Bundeshaus abzusichern.
Hier ein Video des Vorfalls:
#FakeNewsExterner Link @georghumbelExterner Link @sonntagszeitungExterner Link. Wie auf dem Video von @nau_liveExterner Link (https://t.co/FtXfan6VYGExterner Link…) zu sehen ist, liess ich mich nicht stoppen. Es geht darum, dass während der Session die parlamentarische Arbeit vor ausländischen Staatsbesuchen Vorrang hat. pic.twitter.com/Dm432LMkYWExterner Link
— Thomas Aeschi (@thomas_aeschi) June 12, 2024Externer Link
Die beiden SVP-Parlamentarier Thomas Aeschi und Michael Graber wollten sich ihren Weg aber nicht versperren lassen und riskierten die Eskalation – zu der es prompt kam. Es ist ein Sinnbild dafür, wie kritisch die Schweizer Rechte inzwischen der offiziellen Schweizer Position zur Ukraine und damit auch der Bürgenstock-Konferenz gegenübersteht. Wir haben hier darüber berichtet.
Kein Kuhhandel für die Armee
Das Schlagwort dieser Session war «Kuhhandel». Es ist der Name einer Idee von Mitte-Links. Der Plan dieser Allianz war, 15 Milliarden Franken für die Armee und für die Ukraine freizuschaufeln: 10 für die Armee, 5 für die Ukraine.
Mittel dazu sollte ein neuer Spezialfonds sein. Damit hätte die Schweiz ihre strenge Schuldenbremse aushebeln können. Denn die Schweiz darf nur ausgeben, was sie auch einnimmt. Darauf haben sich Parlament und Regierung vor 20 Jahren verpflichtet. Jedoch präsentieren sich die Bundesfinanzen in diesem Jahr angespannt wie selten, wir haben es hier erklärt.
Es gibt nur eine Voraussetzung, um die Schuldenbremse ausser Kraft zu setzen, «ein aussergewöhnliches, vom Bund nicht steuerbares Ereignis». Der Krieg gegen die Ukraine könne nicht als solches taxiert werden, war die Meinung der Bürgerlichen – und schliesslich der Mehrheit im Ständerat. Der Vorschlag blieb darum bereits in der kleinen Kammer auf der Strecke.
Kürzen bei der Entwicklungshilfe
Doch natürlich wollen auch die Bürgerlichen mehr Geld für die Armee – und im Grossen und Ganzen sind sich die Mehrheiten beider Kammern darin einig, dass die Sicherheit der Schweiz aktuell eine Priorität sein soll.
Vier Milliarden Franken für die Armee über die nächsten vier Jahre, das war darum der Alternativ-Vorschlag, und der kam durch. Die Finanzierung soll nun aber über Einsparungen erfolgen. Kürzen wollen die Bürgerlichen insbesondere bei der Entwicklungshilfe. Zwei Milliarden soll die Schweiz dort bis 2028 zusammenstreichen.
Im Herbst wird der Nationalrat darüber befinden, doch die Aufschreie von Links sind jetzt schon laut. «Eine Schande», tönte es unisono, die reiche Schweiz spare auf dem Buckel des globalen Südens und verursache damit auch höheren Migrationsdruck. Das letzte Wort dazu ist also noch nicht gesprochen.
Kräftemessen mit Strassburg
Internationale Strahlkraft hat auch eine Erklärung beider Kammern an die Adresse von Strassburg: Sie wollen, dass die Schweiz gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den Widerstand geht.
Anfang April hatte der EGMR den sogenannten Schweizer Klimaseniorinnen letztinstanzlich recht gegeben und die Schweiz verurteilt. Sie tue zu wenig, um ältere Menschen vor den Folgen der Klima-Erwärmung zu schützen und verletze damit ein Menschenrecht, lautete das Verdikt gegen die Schweiz.
Dagegen protestieren die Räte nun. Einerseits leiste die Schweiz genug in Sachen Klima. Andrerseits sei es nicht Sache dieses Gerichtshofs, in die Schweizer Gesetzgebung einzugreifen, so die Argumente. Das Parlament spricht in seiner ErklärungExterner Link von einem «unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus».
Der Bundesrat will im August Stellung zum Urteil aus Strassburg nehmen.
Wegweisende Entscheide im Asylrecht
Die wählerstarke SVP macht Migration und Asyl in jeder Session zum Thema. Diesmal hatte sie afghanische Frauen im Visier. Sie erhalten in der Schweiz Asyl, weil sie nach Ansicht des Bundes im Taliban-Regime von Afghanistan besonders verfolgt werden. Diese Asylpraxis, vor einem Jahr eingeführt, wollte die SVP rückgängig machen. Doch sie bleibt nun bestehen. Der Nationalrat hat die MotionExterner Link abgelehnt.
Ins Visier der bürgerlichen FDP gerieten Asylbewerbende aus Eritrea. Die Schweiz gewährt ihnen Asyl, weil sie in ihrer Heimat der Willkür ihrer Regierung ausgesetzt sind. In den letzten Monaten gab es aber wiederholt offene Scharmützel zwischen Gegner:innen und Befürworter:innen des Regimes.
Nun forderte ein VorstossExterner Link der FDP, dass der Bund mit einem afrikanischen Drittland ein Transitabkommen abschliesst, um abgewiesene Asylbewerber:innen aus Eritrea zurückzuführen. Ein weiterer Vorstoss verlangte ein härteres Vorgehen gegen Eritreer:innen, die in die Schweiz geflohen sind und ihr Regime von hier aus gewaltsam unterstützen. Beide wurden angenommen. Der Bundesrat muss diese nun umsetzen.
Keine Anerkennung für Palästina
Im Bundeshaus zum Thema wurde auch der israelisch-palästinensische Krieg. So beschloss der Ständerat als Zweitrat abschliessend, dass der Bundesrat bei Schweizer Hilfsgeldern in Palästina genauer hinschauen und eine Taskforce einsetzen muss, damit diese nicht für Kriegshandlungen zweckentfremdet werden.
Ein Vorstoss der SP, dass der Nationalrat Palästina als eigenständigen Staat anerkennen soll, blieb ohne Chance. Denn Aussenminister Ignazio Cassis überzeugte die Ratsmitglieder mit dem Argument, dass eine Anerkennung von Palästina nicht in der Kompetenz des Parlaments liege.
Beschlossen ist aber eine Motion in Sachen Iran. Das Parlament gibt dem Bundesrat den Auftrag, die iranische Protestbewegung in ihrem Kampf für Frauen – und Menschenrechte zu unterstützen. Die Motion ist zwischen den Räten aber geschliffen worden. Der Ständerat strich die ursprüngliche Forderung nach Sanktionen aus der Motion.
Höhere ETH-Gebühren für Ausländer:innen
Der Nationalrat beschloss eine Erhöhung der Studiengebühren für ETH-Studierende aus dem Ausland: Diese sollen künftig mindestens das Dreifache der Gebühren von Schweizer Studierenden betragen. Bisher bezahlen Schweizer:innen und Ausländer:innen gleich viel.
Die ETH-Gebühren sind im internationalen Vergleich tief. Das sprach in den Augen vieler Ratsmitglieder für eine Anhebung. Die ETH selbst wehrt sich dagegen. Man wolle lieber die besten Köpfe und nicht die reichsten, sagte ETH-Ratspräsident Michael Hengartner gegenüber SRF.
Wichtig zu wissen: Ob jemand als «ausländische:r Studierende:r» gilt, ist auch nicht unbedingt eine Frage der Nationalität. Nicht-Schweizer:innen, die ihren Bildungsweg in der Schweiz gemacht haben, gelten bei der ETH als so genannte Bildungsinländer:innen und wären von der erhöhten Gebühr nicht betroffen. Auch Auslandschweizer:innen gelten nicht als ausländische Studierende.
Familiennachzug ohne Diskriminierung
Wenn sie ihre Familienmitglieder in die Schweiz holen möchten, haben Bürger:innen von EU-Staaten, die in der Schweiz leben, heute mehr Rechte als Schweizer:innen. Das will der Nationalrat nun ändern und hat einem entsprechenden Vorstoss relativ knapp zugestimmt. Als nächstes beschäftigt sich der Ständerat mit dem Geschäft. Dieser Entscheid ist im Interesse der Auslandschweizer-Organisation.
Problemlos durch die Räte kamen auch zwei Doppelbesteuerungsabkommen, eines mit Frankreich in Sachen Telearbeit, und eines mit Slowenien.
Absage an Biodiversitäts-Förderung
Für Auslandschweizer:innen ebenso interessant sind zwei Entscheide in Bezug auf anstehende Urnengänge.
Einerseits hat der Ständerat einen zuvor bereits beschlossenen Plan für mehr Biodiversitätsflächen in der Landwirtschaft durch einen Annullations-AntragExterner Link endgültig gekippt. Dieser Entscheid dürfte den Abstimmungskampf um die Biodiversitäts-InitiativeExterner Link befeuern, die am 22. September zur Abstimmung kommt.
Andrerseits hat der Nationalrat die UmweltverantwortungsinitiativeExterner Link der jungen Grünen zur Ablehnung empfohlen. Er folgt damit dem Bundesrat.
Keine Anglizismen
Eine gewisse Igel-Mentalität des Parlaments kommt schliesslich auch in einem kleinen Detail zum Ausdruck: Der Nationalrat will Opfer von Stalking besser schützen. Dafür hat er nun einen eigenen Straftatbestand geschaffen.
Interessant: Die Schweizer Gesetzestexte kennen bisher keine Anglizismen – und das soll auch weiterhin gelten. So ist Stalking im vorgeschlagenen Gesetz als «jemanden beharrlich verfolgen» beschrieben. Das Geschäft geht nun an den Ständerat.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch