Sozialabbau oder Hilfe für Behinderte?
Am 17. Juni befindet das Schweizer Stimmvolk im In- und Ausland über die 5. Revision der Invalidenversicherung. Hauptstreitpunkt im Abstimmungskampf ist die bessere Integration in den Arbeitsmarkt.
Das Thema kommt an die Urne, weil gegen die Gesetzesrevision das Referendum eingereicht wurde. Die Gegner befürchten einen Leistungsabbau zu Lasten der Behinderten.
Die Schweizerische Invalidenversicherung (IV) gehört zusammen mit der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) zu den Grundpfeilern der sozialen Vorsorge der Schweiz.
Seit einigen Jahren steigt die Anzahl Bezügerinnen und Bezüger von Invaliden-Renten stetig an. Immer mehr und immer jüngere Personen sind so vom Erwerbsleben ausgeschlossen.
Diese Entwicklung führte dazu, dass die IV beim AHV-Ausgleichsfonds, über den die Auszahlung der Prämien läuft, hoch verschuldet ist. Ende 2006 mit rund 9,3 Mrd. Franken, während es Ende 2004 noch 6 Milliarden waren.
Noch 2001, anlässlich der 4. IV-Revision, war von einer schuldenfreien Invalidenversicherung bis 2007 die Rede gewesen. Ein Luftschloss.
Die 5. IV-Revision kommt nun zur Abstimmung, weil Behindertenverbände mit über 66’000 gültigen Unterschriften das Referendum dagegen eingereicht haben. 50’000 sind mindestens nötig dafür.
«Arbeit statt Rente»
Mit der 5. IV-Revision soll diese negative Entwicklung nun gestoppt werden. Einerseits mit einer Senkung der Ausgaben des Sozialwerks, andererseits sollen mehr Menschen mit Behinderungen erwerbstätig bleiben können.
Gemäss dem Prinzip «Eingliederung vor Rente» sollen Massnahmen wie Umschulung, Arbeitsvermittlung und Berufsberatung ausgebaut werden. Weil heute ein Grossteil der Neurenten wegen psychischer Erkrankungen zugesprochen wird, ist ein Hauptaugenmerk auf die Eingliederung dieser Personen gerichtet.
Gleichzeitig ist vorgesehen, die verbleibende Erwerbsfähigkeit der Versicherten genauer zu prüfen, bevor eine Rente zugesprochen wird. Dies mit frühzeitiger Erfassung, intensiverer Begleitung und aktiverer Kooperation der Behinderten.
Die Anreize für Arbeitgeber, Behinderte zu beschäftigen, sollen zudem verstärkt werden, beispielweise mit einer Entschädigung für Integrationsmassnahmen am Arbeitsplatz. Neu sollen Arbeitgebende und Ärzte auch eine mögliche Invalidität melden können.
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Referendum
Mehr Einsparungen als Mehrkosten
Zwar kosten diese Kurskorrekturen etwas. Doch unter dem Strich sollen sie der IV Einsparungen ermöglichen, weil dadurch weniger neue Rentenfälle entstehen.
Insgesamt sollen die Ausgaben der IV mit diesen Massnahmen jährlich um über 520 Mio. Franken gesenkt werden. 270 Millionen entfallen auf die verstärkte Eingliederung, gut 250 auf die Sparmassnahmen.
Dass die IV jedoch zusätzliche Finanzspritzen braucht, ist für die Landesregierung klar. Die entsprechende Vorlage zur Zusatzfinanzierung und Entschuldung des Sozialwerks wird derzeit im eidgenössischen Parlament heftig diskutiert.
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Invaliden-Versicherung
Pro und Kontra
Auch die IV-Revision war dort umstritten. Früherkennung und Eingliederung seien sinnvoll, sagt die Basler Nationalrätin Silvia Schenker, Vize-Präsidentin der Sozialdemokratischen Partei (SP) und Mitglied der für das Geschäft zuständigen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.
«Aber die Vorlage enthält sehr viele Abbaumassnahmen, Leistungskürzungen für die Versicherten. Und sie enthält vor allem – und das ist der grosse Fehler dieser Vorlage – nichts, was die Arbeitgebenden dazu motivieren oder sogar verpflichten könnte, Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen.»
Dem widerspricht der christlichdemokratische Schwyzer Nationalrat Reto Wehrli, Sprecher derselben Kommission und Ko-Präsident des Ja-Komitees, entschieden. Keiner dieser Punkte, und auch nicht alle zusammen, würden eine Ablehnung der Gesetzesrevision rechtfertigen, sagt er im Streitgespräch.
«Internationale Erfahrungen zeigen, dass es nichts bringt oder sogar kontraproduktiv ist, Arbeitgeber in einer Wirtschaft mit kleinen und mittleren Unternehmen wie in der Schweiz zu etwas zu verpflichten, das sie einfach nicht leisten können.»
Doch für Schenker ist klar: «Für die Betroffenen sind diese Abbau-Massnahmen, die wir beschlossen haben, alles andere als Kleinigkeiten.»
Wehrli hingegen betont, dass die Revision «keine Sozialkahlschlag-Vorlage» sei. «Im Gegenzug geben wir pro Jahr etwa 300 bis 400 Mio. Franken neu aus, um das System überhaupt in Gang zu bringen.»
Volksmehr entscheidend
Da es sich bei der Vorlage um die Änderung eines Bundesgesetzes, respektive ein fakultatives Referendum dagegen handelt, ist am 17. Juni 2007 einzig das Volksmehr ausschlaggebend.
Bei einer Annahme der Vorlage tritt die 5. IV-Revision ab 2008 in Kraft.
swissinfo, Christian Raaflaub
Das Referendum gegen die IV-Revision wurde von zwei Behinderten-Organisationen ergriffen. Inzwischen ist die Gegnerschaft auf über 100 verschiedene Verbände, Gewerkschaften und Parteien aus dem linken Spektrum angewachsen.
Die grosse Behinderten-Organisation «Pro Infirmis» hat Stimmfreigabe gegeben und sorgte damit unter Behinderten für Unmut.
Die Befürworter stammen fast geschlossen aus dem bürgerlichen Lager. Ein überparteiliches Komitee setzt sich für die Revision ein.
Die Invalidenversicherung (IV) ist Teil des eidgenössischen Sozialversicherungs-Netzes.
Dieses basiert auf dem Dreisäulenkonzept: die staatliche Versicherung mit IV, AHV und den Ergänzungsleistungen (EL) als erste Säule, die berufliche Vorsorge (Pensionskasse) als zweite Säule und die Selbstvorsorge als dritte Säule.
Dieses System wird ergänzt durch die öffentliche Sozialhilfe (Fürsorge) als letztes Auffangnetz.
Die IV wird zu rund 40% von Beiträgen der Erwerbstätigen und Arbeitgebenden finanziert. Der Rest stammt aus öffentlichen Geldern.
Eine wichtige Rolle kommt dem AHV-Ausgleichsfonds zu: Er nimmt alle Beiträge für AHV, IV und Erwerbsersatzordnung (EO) entgegen.
Zudem stellt er ebenfalls die Gelder für alle Leistungen gemäss den Gesetzen für AHV, IV und EO bereit.
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