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Sri Lanka droht «humanitäre Katastrophe»

Rotkreuz-Mitarbeiter bringen einen Verletzten in ein Spital in Anuradhapura. Keystone

Oberste Prioriät müsse der uneingeschränkte Zugang zu den Bedürftigen in Sri Lanka haben, sagt Reinhard Fichtl, Delegierter des Schweizer Kinderhilfswerks Terre des hommes. Er betont auch die Wichtigkeit einer politischen Lösung für die kriegsversehrte Insel.

Einmal mehr leidet die Zivilbevölkerung: Rund eine Viertelmillion Menschen sind im Kriegsgebiet im Nordosten Sri Lankas den Kämpfen ausgliefert. Viele Menschen sind auf der Flucht, zahlreiche weitere kamen ums Leben oder wurden verwundet.

Unterdessen hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zusammen mit lokalen Fischern rund 240 verletzte Zivilpersonen auf ein Hilfsschiff gebracht, das vor der Ortschaft Putumattalan im Kriegesgebiet ankert.

Am Dienstag meldete das Rote Kreuz, dass 16 Patienten beim Angriff auf ein provisorisches Spital getötet worden seien. Wer für den Beschuss verantwortlich war, ist unklar.

«Die Situation ist sehr schwierig. Das IKRK ist die einzige Hilfsorganisation im Kriegsgebiet – alle anderen wurden im September 2008 rausgeschmissen», sagt Fichtl, Delegierter von Terre des hommes vor Ort.

Einmal mehr auf der Flucht

«Zehntausende von Menschen wurden zum wiederholten Mal vertrieben. Sie haben praktisch nichts: Fast keine Infrastruktur, keine medzinische Hilfe, eine äusserst schlechte Versorgung mit Nahrungsmitteln, keine Unterkunft. Es kommt einer humanitären Katastrophe gleich.»

Die Zahl der Menschen, die vor den Kämpfen zwischen der srilankischen Armee und den Tamil Tigers (LTTE) auf der Flucht sind, ist in der letzten Woche stark gestiegen. Das von den LTTE kontrollierte Gebiet beschränkt sich auf weniger als 175 km2.

Gegen 50’000 Soldaten sind im Nordosten der Insel im Einsatz. Die Militär-Operation hat zum Ziel, den seit 1983 immer wieder aufflammenden Bürgerkrieg, der über 70’000 Tote gefordert hat, zu beenden.

Mit 430 Mitarbeitern gehört Terre des hommes zu den grössten Nichtregierungs-Organisationen (NGO) in Sri Lanka. Die Organisation kümmert sich um rund 30’000 Kinder, viele von ihnen sind schlecht ernährt, etwa 7000 sind kriegstraumatisiert.

Gerüchte grassieren

Fichtl, der in Batticaloa, an der Ostseite der Insel stationiert ist, bezeichnet das Fehlen unabhängiger Informationen als grosses Problem: «Es gibt keine internationalen Beobachter, keine Journalisten und keine Hilfsorganisationen, die Zugang zum Kriegsgebiet haben.»

Internationale Menschenrechtsgruppen schätzen, dass über 200’000 Zivilisten im kleinen Landfleck, der von den Rebellen kontrolliert wird, eingeschlossen sind. Die Regierung spricht von rund 100’000 Personen, die sich noch dort befinden.

Die Regierung, aber auch Menschenrechtsgruppen und Hilfswerke haben den Tamil Tigers vorgeworfen, sie würden die Zivilbevölkerung zum Bleiben zwingen, quasi als menschliche Schutzschilde. Die Rebellen weisen den Vorwurf zurück.

Die LTTE konnte nicht konsultiert werden, da fast alle Telekommunikations-Verbindungen zum Kriegsgebiet unterbrochen sind.

«Das Problem ist, dass alles auf Gerüchten basiert», sagt Fichtl. «Wir wissen nicht, ob sich die Zivilpersonen freiwillig dort aufhalten, oder ob die LTTE sie dort als Geiseln festhält, wie das die Regierung behauptet.»

Prioritäten

Am Dienstag flohen weitere Menschen aus der Kriegszone, wie das Militär mitteilte. Dies trotz eines Selbstmordattentats am Montag auf eine Flüchtlingsmeldestelle, für das die Armee eine LTTE-Kämpferin verantwortlich machte, die sich unter die Zivilbevölkerung gemischt haben soll. Der Anschlag forderte 29 tote Zivilisten und Soldaten, 90 weitere wurden verletzt.

Laut Armeesprecher Udaya Nanayakkara erkärten Flüchtlinge, die militärisch kontrolliertes Gebiet erreichten, die LTTE habe auf Dutzende Menschen geschossen, die auf der Flucht waren.

«Heute kamen insgesamt 1057 Zivilpersonen an. Die LTTE-Terroristen hatten auf sie geschossen und dabei 19 getötet und 69 weitere verletzt», so Nanayakkara. Die Flüchtlinge trügen die Toten mit sich.

Damit stieg die Zahl der Menschen, welche dieses Jahr aus dem Kriegsgebiet geflüchtet sind, auf 28’226. Laut Angaben des Militärs flüchteten fast alle im Verlauf der letzten Woche.

Wie der Delegierte von Terre des hommes erklärte, haben die Versorgung der Menschen mit sauberem Trinkwasser, Nahrung und medizinischer Hilfe sowie der Wiederaufbau des Gesundheitswesens im Moment Vorrang.

«Die Leute sind seit Monaten auf der Flucht. Wir befürchten, dass ihr Gesundheitszustand schlimm ist», sagte Fichtl.

Politische Reformen?

Auch wenn es den Regierungssoldaten gelingen sollte, die Kontrolle über die restlichen Rebellengebiete zu erlangen, bedeutet dies laut Fichtl noch lange nicht das Ende des Bürgerkriegs, aber zumindest das Ende der militärischen Konfrontation.

«Die LTTE ist vielleicht geschlagen, aber die Forderung der tamilischen Bevölkerung nach Selbstbestimmung ist damit nicht vom Tisch.»

Fichtl befürchtet, dass die srilankische Regierung nach ihrem militärischen Sieg keine Eile hat, politische Lösungen zu diskutieren. «Und wenn es keine politischen Reformen gibt, wird der Konflikt mit Sicherheit weitergehen.»

Der Mangel an politischen Reformen sei schliesslich der Grund, wieso so viele Menschen die LTTE unterstützten, sagt er. «Würden politische Reformen stattfinden, gäbe es für die LTTE keine Existenberechtigung mehr.»

swissinfo, Thomas Stephens
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

Die Tamil-Tigers begannen in den 1970er-Jahren mit ihrem Kampf für einen unabhängigen Staat im Norden und Osten Sri Lankas. Mit der Begründung, dass die Tamilen von der singalesischen Mehrheit diskriminiert würden.

Der Konflikt forderte schätzungsweise 70’000 Tote und Tausende von Vertriebenen. Der Krieg bedeutete auch einen Rückschlag für das wirtschaftliche Wachstum der Insel.

2003 und 2006 zogen sich die Tigers aus den Friedensgesprächen zurück, weil sie nicht ernst genommen worden seien. Seither beschuldigten sich die beiden Seiten immer wieder, Waffenruhen gebrochen zu haben.

Seit der Eroberung von Mullaitivu, der letzten Bastion der Tamil Tigers im Nordosten der Insel, spricht die srilankische Armee von einer baldigen Niederlage der Rebellen.

Laut dem Roten Kreuz sind über 200’000 Zivilisten im Gebiet eingeschlossen, das noch von den Tamil Tigers kontrolliert wird.

Sowohl der Armee wie auch den Tigers wurden regelmässig massive Menschenrechts-Verletzungen vorgeworfen, so zum Beispiel von Amnesty International und von Human Rights Watch.

In der Schweiz leben rund 43’000 Menschen aus Sri Lanka. Der grösste Teil von ihnen gehört der tamilischen Minderheit an.

10’000 haben inzwischen einen Schweizer Pass.

Über 90% der Nichteingebürgerten haben eine Aufenthalts- oder Niederlassungs-Bewilligung.

Der Zustrom von Tamilen aus dem Bürgerkriegsland begann Mitte der 80er-Jahre.

Die Tamilen in der Schweiz leben hauptsächlich in der Deutschschweiz, insbesondere in den Kantonen Bern, Zürich und Basel.

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