Stark unterschätzte Exportregion Naher Osten
Eigentlich wäre der Nahe Osten für die Exportwirtschaft genau so wichtig wie China. Laut neuesten Aussenhandels-Zahlen führt die Schweiz Produkte für je rund 7 Mrd. Franken in diese Regionen aus. Doch ausser Öl und Gas importiert die Schweiz nur wenig aus arabischen Ländern.
Die Massenproteste in Tunesien und Ägypten werden auch damit begründet, dass es in diesen Staaten zwar Millionen von gut ausgebildeten Leuten, aber nur sehr wenig Arbeitsplätze gibt.
Ein Blick auf die Struktur der Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und diesen Ländern zeigt, dass der Nahe Osten, die Golfstaaten und einige Länder Nordafrikas als Exportregion für die Schweiz zahlenmässig mindestens so stark ins Gewicht fällt wie China, die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt.
Das zeigen die Aussenhandelszahlen der Eidgenössischen Zollverwaltung, die am Donnerstag publiziert wurden: 2010 beliefen sich die Exporte sowohl nach China als auch in den Nahen Osten auf je rund 7 Mrd. Franken. Zählt man Israel auch dazu, sind es für den Nahen Osten sogar 8 Milliarden, sagt Ruedi Büchi, Nahost- und Afrika-Spezialist des Aussenhandelsförderers Osec, gegenüber swissinfo.ch.
«Doch während die Handelsbeziehungen zu China in aller Munde sind, wird über den Austausch mit den arabischen Ländern kaum gesprochen», konstatiert Büchi.
Nil als Nabel
Ungleichgewichtig entwickelte sich in den bis vor kurzem von staatlich gelenkten Volkswirtschaften geprägten Ländern des Nahen Ostens auch das Verhältnis von Arbeitsmärkten und Bildungssystem. «Das formale Bildungssystem wurde nach Ende des Kolonialismus zwar für die breiten Massen zugänglich», sagt Franz Schultheis, ein an der Uni St. Gallen lehrender Soziologe, gegenüber swissinfo.ch zur Situation in Nordafrika. Nur hätten diese Länder für ihre Uni-Absolventen keinen entsprechenden Arbeitsmarkt hervorgebracht.
«Allein in den Golfstaaten gibt es schätzungsweise eine Million Facharbeiter und gut ausbildete Leute aus Ägypten», bestätigt auch Ruedi Büchi von der Osec. «Besonders ägyptische Mediziner seien im Ausland bekannt und geschätzt.»
Ägypten spielt durch die Kontrolle über den Suezkanal und die zentrale Stellung in der arabischen Welt eine wichtige Rolle in der Politik Afrikas, des Mittelmeerraums, des Nahen Ostens sowie auch weltweit. Es ist das bevölkerungsreichste, arabische Land und nach Südafrika der am stärksten industrialisierte Staat Afrikas.
In der Wahrnehmung oft unterschätzt
Auch im Vergleich zu anderen Länderkategorien oder Regionen werde die Relevanz der Exportregion Naher Osten in der Schweizer Wahrnehmung oft unterschätzt: «Alles spricht vom zunehmenden Gewicht der BRIC- respektive Schwellenländer», so Büchi. Doch auch diese Länder brächten nicht viel mehr auf die Waage als der Nahe Osten. Nach Indien und Brasilien wurden je rund zweieinhalb Milliarden exportiert, nach Russland 2,6 Milliarden.
Wo liegen die Gründe für diese unterschiedliche Wahrnehmung. Eine Erklärung dafür sind die unterschiedlichen Perspektiven, die man dem Nahen Osten im Vergleich zu den BRIC- und asiatischen Ländern attestiert. Während aus dem Nahen Osten vor allem die wenig verarbeiteten Rohstoffe Öl und Gas in die Industrieländer fliessen, exportieren Asien und die BRIC-Länder immer mehr fertige Industrie- und Konsumgüter.
«Die Schweiz geniesst in Ägypten und der ganzen arabischen Welt ein sehr hohes Ansehen. Ägypten stellt für die Schweiz einen grossen, bevölkerungsreichen Markt dar. Um die Wirtschaftsbeziehung zu unterstützen, wurde 2009 ein Freihandelsabkommen mit Ägypten und den EFTA-Staaten abgeschlossen. Die Schweiz ist ein Mitglied der EFTA. Wie auch in anderen Ländern sind in Ägypten Bürokratie und zum Teil auch Korruption anzutreffen,» sagt Büchi.
Mental weit offen
Ägypten besitzt eine sehr lange Tradition als Tourismus-Destination und erwirtschaftet mehr als 10% des Bruttoinlandprodukts mit der Tourismusindustrie. Ägypter sind weltoffen und sehr gut informiert. «Sie vermögen ihre Lebenssituation sehr gut einzuschätzen», so Büchi. «Aufgrund der wirtschaftlichen Öffnung und den Kontakten mit dem Ausland, wurde den zahleichen jungen ausgebildeten Ägyptern zunehmend bewusst, wie wenig Perspektiven sie haben.»
Sie wissen über westliche Wertvorstellungen Bescheid und können sie jenen im eigenen Land gegenüberstellen. Sie erkennen zum Beispiel das extreme Einkommens- und Reichtumsgefälle in Ägypten und dies führt natürlich auch zu Unzufriedenheit.
Auch in Tunesien sei das Geld aus den Tourismuseinnahmen direkt in das Bildungssystem geflossen, sagt der St. Galler Professor Schultheis, was ebenfalls ein akademisches Proletariat hervorgebracht habe, das in hochprekären Verhältnissen lebe.
Datteln und Bohnen statt Net Tops und Handys
Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch in der Aussenhandelsbilanz der Schweiz mit diesen Ländern.
Während die Schweiz für ihre Investitionsprodukte und Luxusuhren, die sie nach China exportiert, nicht mehr nur billige Konsumprodukte wie Kleider oder Haushaltsgegenstände, sondern immer mehr Hochtechologisches wie Computer, Natels und Fahrzeuge einführt, importiert sie aus arabischen Ländern wie Ägypten seit Jahrzehnten die immer gleichen Datteln, Bohnen und Trauben!
Die schweizerischen Exporte hingegen seien für beide Regionen ähnlich, sagt Büchi: Investitionsgüter, Fabrikanlagen, Präzisionsinstrumente, Pharma und Chemie. Über vier der insgesamt 7 Milliarden würden allein in die Golfstaaten exportiert.
Wie ungleichgewichtig jedoch die Handelsbilanz mit dem Nahen Osten ausfällt, zeigen die Importe aus Ägypten. Das grösste Land der Region mit über 80 Mio. Einwohnern liefert uns jährlich Waren, deren Wert nur knapp die 100 Mio. Franken-Grenze überschreitet. Die Schweiz liefert Waren für einen rund sieben Mal grösseren Wert an den Nil.
Laut der Nachrichtenagentur Reuters gehören die Finanzplätze Zürich und Genf zu jenen «Save havens», denen die Reichen aus dem Nahen Osten ihre Vermögen in dieser Zeit der politischen Krise besonders gerne anvertrauen.
Ein vermehrter Transfer von Kapital sei bereits spürbar.
Gerade die Privatbanken in der Schweiz, die wegen der Aufweichung des Bankgeheimnisses schwierige Jahre hinter sich haben, weisen nun einen eindeutigen Standort-Vorteil auf.
Mit einer Bevölkerung von 83 Millionen und einem Bevölkerungswachstum von 3% jährlich ist das Land am Nil zum Wirtschaftswachstum verdammt.
Jedes Jahr kommen 600’000 bis 700’000 junge Leute auf den Arbeitsmarkt. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt 9 bis 10%, die Dunkelziffer liegt aber viel höher.
Von 2006 bis 2008 wuchs Ägyptens Wirtschaft 7% jährlich. Laut OECD betrug das Wachstum 2009/2010 5,1% – eigentlich ein gutes Zeichen.
Doch sollte es laut Regierungsplan jährlich rund 6% zunehmen, was in den vergangenen Jahren – auch wegen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise – nicht mehr der Fall war.
So trug vor der Krise der Tourismus normalerweise rund 11% zum BIP bei, aber seither gab es weniger Besucher.
Wenn sich die Weltwirtschaft abkühlt, durchqueren weniger Schiffe den Suezkanal, deren Kanalgebühren üblicherweise 3% des BIP ausmachen.
Die Rimessen der Auslandägypter beliefen sich vor der Krise auf rund 4%. Auch die ausländischen Direktinvestitionen, die seit 2003 von 1 Milliarde auf 2007 fast 13 Milliarden Dollar (über 8% von BIP) gestiegen waren, sind seither zurückgefallen.
Trotz allen Anstrengungen beläuft sich Ägyptens BIP pro Kopf 2010 auf nur 2000 Dollar, was etwa der Hälfte des tunesischen Werts beträgt.
(Quelle: OECD)
In Ägypten sind mehr als 100 Schweizer Unternehmen tätig. ABB, Clariant, Novartis, Nestlé, Bühler, SGS, Roche, Credit Suisse und UBS. Und natürlich die Mövenpick Hotels, deren Gründer Ueli Prager als erster bereits in den 70er Jahren das Land erschloss.
Mövenpick beschäftigt in Ägypten 2800 Mitarbeitende und hat bekannt gegeben, dass die Betriebe offen bleiben. Andere Firmen stellten sich auf kurzfristige Produktions-Unterbrechungen ein.
Nach Südafrika, Libyen und Algerien (Erdgas und Erdöl) war 2009 Ägypten der viertgrösste Handelspartner der Schweiz in Afrika.
Die Schweizer Exporte erreichten 656, die Importe 109 Mio. Franken.
Im Februar 2009 besuchte die damalige Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard mit einer Delegation von Wirtschaftsvertretern Ägypten.
Die Efta, deren Mitglied die Schweiz ist, hat mit Ägypten 2007 einen Freihandelsvertrag unterzeichnet.
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