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Stehende Ovationen für Widmer-Schlumpf

swissinfo.ch

Die Basis der SVP Graubünden steht voll hinter der von der nationalen Partei als "Verräterin" und "Lügnerin" beschuldigten Bundesrätin. Die Delegierten-Versammlung lehnt alle Forderungen nach Rücktritt und Parteiaustritt ab.

Mit seinen 83 Jahren ist er eine Vaterfigur: Alt-Bundesrat Leon Schlumpf, der Vater der Hauptperson des Abends, war 1971 zudem eine der treibenden Kräfte bei der Gründung der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Diese entstand aus der Fusion der bäuerlichen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei mit den Glarner- und Bündner-Demokraten. Inzwischen ist sie zur grössten Partei im Land aufgestiegen und politisiert am rechten Rand des bürgerlich-konservativen Spektrums.

Bereits eine halbe Stunde vor Beginn steht Leon Schlumpf im Saal inmitten von Blitzlichtgewittern und TV-Scheinwerfern. Geduldig antwortet er auf die immer gleichen Fragen. Er bedaure, was jetzt geschehe.

Auslöser: Ein TV-Film

Die SVP-Bundesrätin sei karrieresüchtig und habe die Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher zusammen mit den Linken und den Christlichdemokraten abgesprochen, so der Vorwurf der nationalen Parteizentrale.

Auslöser für die Anschuldigungen war ein Dokumentarfilm über die Abwahl Blochers, den das Deutschschweizer Fernsehen am 6. März ausgestrahlt hatte.

«Nein, meine Tochter hat die Ratschläge ihres Vaters auch in dieser Situation nicht nötig. Die breite Unterstützung aus allen Bevölkerungsschichten, die Solidarität haben ihr gut getan», sagt Leon Schlumpf.

«Vorwürfe sind haltlos»

186 Delegierte aus allen Ecken und Enden des Bergkantons sind nach Chur gekommen. Die nationale Partei hatte die Kantonalsektion ultimativ aufgefordert, ihr Mitglied Eveline Widmer-Schlumpf auszuschliessen. Ansonsten werde die ganze Sektion ausgeschlossen.

Die Staatslimousine fährt vor. Die Kameras verfolgen Eveline Widmer-Schlumpf und ihre Bodyguards auf Schritt und Tritt. Die Delegierten nehmen die Ankunft gelassen. Die Stimmung ist herzlich, gesprächig.

Später legt Eveline Widmer-Schlumpf ihre Sicht der Dinge dar. Sie bezeichnet die Vorwürfe als haltlos. Sie habe sich die Wahl in den Bundesrat weder erschlichen, noch sich mit anderen Parteien abgesprochen.

Nicht das Höchste aller Gefühle

Von ihrer Wahl sei sie «völlig überrascht» worden und habe davon erfahren, als sie im Zug unterwegs an das Fraktionsessen in Bern war. Zahlreiche Gespräche mit der Partei und der Familie hätten sie dazu gebracht, Ja zu sagen. «Die Frage war ja, ob die SVP weiterhin mit zwei Mitgliedern im Bundesrat vertreten sein wird.» Zudem sei vielen Parteiexponenten klar gewesen, dass nach einer Nichtannahme der Wahl ein CVP-Vertreter und nicht Blocher gewählt würde.

Sie sei keine Lügnerin und wolle auf der Linie der SVP, aber «lösungsorientiert und mit Respekt vor den demokratischen Strukturen» politisieren. «Man wird nicht grösser, wenn man andere kleiner macht.» Das Amt habe sie nicht gesucht. «Es ist nicht das Höchste aller Gefühle, Bundesrätin zu sein.»

Ueli ist definitiv nicht Claudio

Die fragliche TV-Dokumentation bezeichnet sie als «Thesenfilm», der «Vorkommnisse suggeriert, die es gar nicht gab». Die Justizministerin untermauert den Vorwurf mit einer offensichtlich manipulierten Filmszene.

Widmer-Schlumpf sitzt am Tag ihrer Wahl im Zug nach Bern. Ihr Mobiltelefon läutet. Sie schaut kurz aufs Display und gibt das Gerät einer Parteifreundin weiter. Die neu Gewählte habe dem Präsidenten der SVP Schweiz, Ueli Maurer, das Gespräch verweigert, behauptet der Film-Kommentar.

Dem hält die Bundesrätin entgegen, dass die Parteifreundin in der Originaltonspur den Anrufer mit dem Namen «Claudio» begrüsse. «Ueli Maurer heisst nun ja definitiv nicht Claudio», so Widmer-Schlumpf schelmisch. – Stehende Ovationen, langer, rhythmischer Applaus.

Unabhängige Positionen

Die folgende Diskussion dreht sich um den fehlenden Respekt und die fehlende Toleranz der Mutterpartei und deren «totalitäre Haltung» in der laufenden «Hetzkampagne». Nur wenige Redner warnen vor der Gefahr einer Abspaltung.

In einer Konsultativabstimmung stärken die Delegierten Widmer-Schlumpf und der Parteileitung den Rücken. Sie lehnen einen Parteiausschluss genauso ab wie die «kollektive Abstrafung» der Kantonalsektion. – Einstimmig, mit wenigen Enthaltungen.

Dass sich die Bündner nicht von der Zürcher Zentrale unterjochen lassen, stellen sie auch bei der Parolenfassung für die Volksabstimmung vom 1. Juni klar. Sie empfehlen die Maulkorb-Initiative der SVP Schweiz zur Ablehnung.

swissinfo, Andreas Keiser, Chur

«Soll Bundesrätin Widmer-Schlumpf in der Schweizer Regierung bleiben?» fragte swissinfo die Leserschaft zwischen dem 11. und 21. April 2008.

An der nicht repräsentativen Umfrage beteiligten sich 1020 Personen. Das Resultat: 669 (65,4%) sagten Ja, 354 (34,6%) Nein.

Fast 127’000 Personen haben eine Protestnote gegen die Politik und den rüden Umgangston der SVP Schweiz gegen Eveline Widmer-Schlumpf unterzeichnet.

Die über zwei Wochen laufende Solidaritätsaktion des Bunds Schweizerischer Frauenorganisationen Alliance F endete am Sonntag, 20. April.

Seit mehr als einem Monat fordert die SVP Schweiz den Rücktritt von Eveline Widmer-Schlumpf aus der Partei und aus der Landes-Regierung.

Sie sei eine Verräterin, weil sie sich vom politischen Gegner habe wählen lassen und die Partei darüber im Ungewissen liess, lautet das Argument für die Rücktrittsforderungen.

Widmer-Schlumpf hat sich diesen Forderungen klar widersetzt.

Ursprünglich wollte die SVP Schweiz ihr ungeliebtes Mitglied direkt ausschliessen. Ein Rechts-Gutachten kam jedoch zum Schluss, dass die Bündner Kantonalsektion für einen Ausschluss zuständig sei.

Der Parteivorstand der SVP Graubünden hat sich am 10. April hinter Widmer-Schlumpf gestellt. Die Delegierten-Versammlung vom 23. April stützte diesen Entscheid.

Nun will die SVP Schweiz die gesamte SVP Graubünden ausschliessen und eine neue, linientreue Kantonalsektion gründen.

Für den Ausschluss benötigt sie eine Zweidrittel-Mehrheit an der Delegierten-Versammlung von Anfang Juli.

Klar ist, dass nicht nur die Bündner-Delegierten, sondern auch solche aus den Kantonen Bern, Baselland, Glarus und Waadt gegen einen Ausschluss stimmen werden.

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