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Streik, ein konjunkturabhängiges Kampfmittel

Auch optisch präsent: Streikende Bauarbeiter am 2. April in Zürich. Keystone

Der Streik bei SBB Cargo und Warnstreiks der Bauarbeiter haben das "mythische Bild" des Arbeitsfriedens in der Schweiz korrigiert, sagt der Historiker Hans-Ulrich Jost im Gespräch mit swissinfo.

Am 1. Mai tritt der neue Landes-Mantelvertrag für das Schweizer Baugewerbe in Kraft. Damit hat der seit Oktober 2007 herrschende vertragslose Zustand ein Ende. Auch die Streikaktionen und –Drohungen der Gewerkschaften sind vorläufig Vergangenheit.

Auch der Streik in den SBB-Cargo-Werkstätten in Bellinzona konnte vor einigen Wochen beigelegt werden. Nun werden die Bundesbahnen und die Eidgenossenschaft als Arbeitgeber an einem runden Tisch zusammen mit den Gewerkschaften Lösungen für die bedrohten Werkstätten suchen.

swissinfo: Warnstreiks im Baugewerbe, Streik bei SBB Cargo in Bellinzona. Sind das lediglich Ausrutscher aus dem legendären Arbeitsfrieden oder ist das effektiv eine neue Entwicklung?

Hans-Ulrich Jost: Es ist keine neue Entwicklung, sondern einfach eine Korrektur unseres etwas mythischen Bildes des Arbeitsfriedens. Streiks gab es in der Schweiz seit 200 Jahren immer. Je nach Konjunktur und je nach den Verhältnissen, die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herrschen, treten Streiks als Kampfmittel auf.

swissinfo: Dennoch gilt die Schweiz weltweit als Insel des Arbeitsfriedens. Woher kommt denn dieses Bild?

H.-U.J.: Auch dieses Bild ist relativ. Die Schweiz war eine Insel des Arbeitsfriedens in der Nachkriegszeit, den goldenen 25 Jahren. Dazu ist zu sagen, dass es für die Schweiz etwas leichter war den Arbeitsfrieden aufrecht zu erhalten, weil ein grosser Teil der Arbeiter ausländische Arbeiter waren. Diese hatten keine politischen Rechte und konnten bei Streiks jederzeit über die Grenze gestellt werden.

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swissinfo: Wieweit spielt es eine Rolle, dass die heutigen, jungen Gewerkschaftsführer eher mit Streik drohen als ihre Vorgänger und gleichzeitig professioneller mit den Medien umgehen?

H.-U.J.: Die Medienwirksamkeit von Gewerkschaftsführern war schon früher sehr gross. Im 19. Jahrhundert hatten wir einen Hermann Greulich, der im Nationalrat vier Stunden lang eine Rede halten konnte und damit auch seine Kollegen faszinierte. Oder wir hatten einen Robert Grimm, der mit seiner «Tagwacht» über einer der meistbeachteten linken Zeitungen verfügte.

Vieles ist da nicht neu, sondern es ist eine Reaktivierung, nach einer Zeit, in der die Gewerkschaften in den 1990er-Jahren etwas an die Wand gedrängt waren.

swissinfo: Was beflügelt denn die Gewerkschaften?

H.-U.J.: Heute sind die Gegensätze zwischen denjenigen, die mit einem Lohn leben müssen und denjenigen, die das Kapital vertreten ganz eindeutig grösser geworden. Symbolhaft sind ja die Unterschiede zwischen den höchsten und den niedrigsten Gehältern. In normalen Zeiten betrug der Faktor maximal 100, heute beträgt er 500. Das ist eine zugespitzte, absurde Situation.

Dass da die alten Ziele der Arbeiterbewegung, das heisst, die Verteidigung des Lebensstandards und der Löhne der Arbeiter wieder mehr Resonanz finden, ist durchaus begreiflich.

swissinfo: Der Arbeitsfrieden wird ja vor allem von den Arbeitgebern immer wieder in hohen Tönen gelobt. Nützt er vor allem ihnen?

H.-U.J.: Das ist so. Der erste Mai wurde 1889 ja eingeführt, um auf internationaler Ebene für den Acht-Stunden-Arbeitstag zu kämpfen. Dieses Ziel ist heute noch nicht erreicht.

Letztlich kommen alle Zugeständnisse, also auch Lohnerhöhungen, nur zustande, wenn ein Druck oder die Möglichkeit eines Streiks da ist. Um das deutlich zu machen, muss auch ab und zu gestreikt werden. Sonst begreifen die Unternehmer die Situation nicht und glauben, die Arbeiterschaft sei nun eingeschlafen und sie könnten nun – auch in der Lohnfrage – alles beim alten lassen.

Auch der 1. Mai ist ein symbolischer Akt, um den Druck aufrecht zu erhalten.

swissinfo-Interview, Andreas Keiser

Der Arbeitsfrieden gilt in der Schweiz gemeinhin als Garant für materiellen Wohlstand, soziale Sicherheit und politische Stabilität.

«Die schweizerische Wirtschaft profitiert von diesem Arbeitsfrieden: Keine Produktionsstörungen und damit einhergehend Verschlechterungen im Betriebsklima der Unternehmungen» – so lobt der Arbeitgeberverband die Sozialpartnerschaft.

Am Anfang der Sozial-Partnerschaft stand das so genannte Friedensabkommen zwischen den Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband in der Metallindustrie von 1937.

Formell ist der Arbeitsfriede durch branchenspezifische Gesamtarbeitsverträge zwischen den Sozialpartnern abgesichert, die Streiks während der Laufzeit des Vertrages verbieten und für Streitigkeiten Schlichtungs-Kommissionen vorsehen.

Das Bundesgericht anerkennt seit 1985 das Streikrecht als Bestandteil der Rechtsordnung.

Die Schweiz hat 1992 die Uno-Menschenrechtspakte ratifiziert, in denen das Streikrecht garantiert wird.

Der gebürtige Seeländer, geboren 1940, doktorierte an der Universität Bern in Geschichte und Philosophie. 1981 wurde er Professor für neueste Geschichte an der Universität Lausanne.

Jost war Offizier der Schweizer Armee und Kampfjet-Pilot, hat aber aus seiner linken Gesinnung nie einen Hehl gemacht. Er gehörte zur Studentenbewegung 1968.

Als Historiker gehört er zu jener Generation, welche die Schweiz zu einer realistischeren Sicht der Vergangenheit bewegte, namentlich auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Jost ist seit 2005 emeritiert, befasst sich aber immer noch mit Forschungs-Projekten, jetzt auf europäischer Ebene.

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