Stromgesetz: Die Schweiz braucht Energie, aber was für welche?
Mit dem Stromgesetz wollen die Schweizer Regierung und das Parlament eigene erneuerbare Energien fördern. Ziel ist Versorgungssicherheit und Dekarbonisierung. Am 9. Juni wird darüber abgestimmt.
Wie kam es zur Stromgesetz-Abstimmung?
Das sogenannte Stromgesetz besteht aus einem ganzen Bündel von Gesetzen, die über Jahre erarbeitet und im letzten Jahr im Parlament beschlossen wurden. Weil es zahlreiche Massnahmen vereint, redet man auch vom Mantelerlass. Die Gesetze sollen der Schweiz ermöglichen, mehr Strom aus Wasser, Sonne oder Wind zu produzieren.
Im Gesetzesbündel finden zwei Interessen der Schweiz zusammen: Zum einen will die Schweiz mit der Energiestrategie auf erneuerbare Energien umstellen. Sie hat sich zuletzt 2023 mit einem Volksmehr zum Klimaschutzgesetz auch dazu verpflichtet, ihre Treibhausgas-Emmissionen auf netto Null zu reduzieren.
Im Nachgang zur Reaktorkatastrophe von Fukushima hat sie gleichzeitig beschlossen, längerfristig aus der Atomenergie auszusteigen. Zum andern hat der russische Krieg gegen die Ukraine aufgezeigt, dass Energie-Importe aus dem Ausland politisch oder ökonomisch risikoreich sein können.
Gegen die Vorlage hat eine Allianz von kleineren Umweltverbänden Anfang Jahr das Referendum ergriffen. Deshalb muss das Volk am 9. Juni darüber befinden.
Worum geht es im Stromgesetz?
Im Zentrum der Vorlage steht die sichere Stromversorgung der Schweiz mit erneuerbaren Energien, insbesondere im Winter. Denn in den Wintermonaten ist die Schweiz von Energie-Importen aus dem Ausland abhängig.
Damit die Schweiz autonomer werden kann, sollen in erster Linie neue Wasserkraftwerke gebaut werden. Konkret ist der erleichterte Bau von 16 Wasserkraft-Projekten vorgesehen.
Ermöglicht wird mit dem Gesetz aber auch ein rascher Ausbau der Solarenergie auf Gebäuden und Infrastruktur, dank Fördergeldern. Bei der Sonnenenergie schätzt der Bund, dass die Stromerzeugung bis 2035 verfünffacht werden kann.
Und schliesslich sollen für Windkraft-Projekte die Bewilligungen erleichtert und Einsprachen erschwert werden – in dafür vorgesehenen Gebieten.
Das ganze Gesetzespaket ist von Bedeutung, weil Elektroautos, Wärmepumpen und die Industrie künftig auch mehr Strom brauchen.
Bundesrat und Parlament wollen so einer möglichen Mangellage begegnen, die sich aus der Dekarbonisierung ergeben könnte. Und sie versprechen sich durch die Versorgung mit eigenem Strom tiefere, stabilere Preise.
Wie steht es um die Stromversorgung der Schweiz?
Der Strom in der Schweiz stammt bereits jetzt vorwiegend aus erneuerbaren Energien, hauptsächlich aus Wasserkraft, 56% war es im Jahr 2023. Von Sonne, Wind, und Biomasse kamen 7%, und 37% war Atomstrom.
Die Schweiz in einem mittleren Jahr rund 60 Terrawattstunden Strom, je nach Jahr schwankt die Produktion zwischen 53 und 68 TWh.
Die heutige Produktion kommt von 650 grösseren Wasserkraftwerken, 1000 Kleinwasserkraftwerken, vier Kernkraftwerken und 37 grösseren Windanlagen.
Dazu kommen 70’000 Photovoltaikanlagen und 960 thermische Stromproduktionsanlagen, etwa Kehrichtverbrennungen. Verbrauch und Produktion in der Schweiz halten sich laut Stromerzeuger Axpo in etwa die Waage.
Übers ganze Jahr gesehen, produziert die Schweiz meistens genügend Strom, seit einigen Jahren ist sie aber Netto-Importeur. Vor allem im Sommer wird viel produziert – die Schweiz kann exportieren. Im Winter dagegen ist sie auf Importe angewiesen.
Zugleich geht der Stromverbrauch in der Schweiz stetig zurück. Er war im Jahr 2023 so tief wie zuletzt 2004. Dies trotz mehr Einwohnern, mehr Wärmepumpen und mehr Elektroautos. Der Grund sind Effizienzgewinne: Sie machen den zusätzlichen Stromverbrauch aufgrund der steigenden Bevölkerungszahl wett.
Was sagt das Ja-Lager zum Stromgesetz?
Gerade im Winter herrscht darum laut Befürworter:innen stets die Gefahr einer Mangellage. «Die Versorgungssicherheit kann auf kurze und mittlere Frist nur durch den Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen im Inland erreicht werden», sagt Energieminister Albert Rösti. «Wer mehr Strom und Unabhängigkeit will, stimmt Ja.»
Die Massnahmen im Gesetz seien ausgewogen, betonen die Befürworter:innen zudem. Tatsächlich hat das Parlament hart und lange an der Vorlage gefeilt, um es schliesslich mit grossem Mehr im Nationalrat (117 zu 19 Stimmen) und gar einstimmig im Ständerat zu verabschieden.
So gesehen ist die Vorlage geradezu idealtypisch für einen guteidgenössischer Kompromiss, zu dem sich im Parlament alle Parteien mit «mittlerer Unzufriedenheit» zusammengefunden haben, wie Rösti sagte.
Die Befürworter:innen versprechen sich mehr Strom aus der Schweiz und dies vor allem im Winter. Sie sagen, dass die beschlossenen Massnahmen umweltverträglich sind und darüberhinaus auch den Strompreis stabil halten werden.
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Wer sind die Stromgesetz-Gegner:innen und was wollen sie?
Die Gegnerschaft formiert sich aus zwei sehr unterschiedlichen Lagern. Da ist zum einen die Stiftung Franz Weber, die sich für den Schutz von Landschaft, Tieren und Natur stark macht.
Die Stiftung kann Wirkung entfalten. 2012 hat sie mit der Zweitwohnungsinitiative einen Sieg errungen, was nur sehr wenige Initiativen schaffen. Damals wie heute gilt kämpft sie gegen die «Landschaftsverschandelung».
Mit zwei weiteren kleinen Umweltorganisationen ergriff sie das Referendum gegen das Stromgesetz, nachdem andere, grössere Umweltverbände ihren anfänglichen Widerstand aufgegeben hatten, weil ihre Anliegen berücksichtigt wurden.
Vera Weber, die Präsidentin der Stiftung, sagt: «Es ist absurd, die Natur auf dem Altar des Klimas zu opfern.»
Die zweite wichtige Treiberin gegen das Gesetz ist die Schweizerische Volkspartei, allen voran deren Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher. Sie sagt, das Stromgesetz bringe weit weniger Strom als benötigt werde, es sei nur «ein Tropfen auf den heissen Stein».
Auch Martullo-Blocher argumentiert mit Landschaftsschutz: Es drohe der Bau von 9000 Windrädern und die Überdeckung riesiger Flächen mit Solarpanels.
Martullo-Blocher hat es geschafft, ihre Partei, die im Parlament noch für das Gesetz war, ins gegnerische Lager zu ziehen. Ein Grund dafür: Die SVP erhofft sich von einem Nein auch neuen Schwung für Atomstrom.
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Was passiert bei einem Nein zum Stromgesetz?
Die Debatte um Atomstrom würde wohl an Fahrt gewinnen. Mit der «No Blackout Initiative», die den Schweizer Atomausstieg beenden will, kommt diese Frage zwar ohnehin bald vors Volk.
Mit einem Ja zum Stromgesetz würde dieser Initiative aber Dringlichkeit fehlen, mit einem Nein erhielte sie Bedeutung. Ob der Bundesrat einen Gegenvorschlag zu dieser Initiative vorlegt, wird damit auch vom Ausgang der Stromgesetz-Abstimmung abhängen.
Einigkeit herrscht in allen Lagern darin, dass der Bau von neuen Kernkraftwerken in der Schweiz wegen der Einsprachemöglichkeiten auf zahlreichen Ebenen so oder so Jahrzehnte dauern könnte.
Bei einem Nein bleibt auch die Frage nach einer möglichst vollständigen, eigenen Schweizer Stromversorgung offen. Die bestehenden Gesetze bleiben in Kraft, einzelne Förderungsmassnahmen würden jedoch auslaufen.
Die Befürworterinnen und Befürworter sagen, dass es bei einem Nein wohl Notfallmassnahmen für den Winter brauche. Infrage kämen dafür kurzfristig am ehesten fossile Energien, also Gaskraftwerke – oder vermehrte Stromimporte.
Parolen
Ja
Bundesrat und Parlament
Grünliberale
Economiesuisse, Konferenz der Kantone, Gewerkschaften, WWF, Pro Natura, Greenpeace, Stiftung Landschaftsschutz Schweiz
Nein
SVP
Stiftung Franz Weber, Verein Freie Landschaft Schweiz
Stimmfreigabe
EDU
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