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Stromlücke: Drohvokabel oder reale Gefahr?

Wird die Stromrechnung bald steigen, oder kommt es zu einer Versorgungslücke? Ex-press

Innerhalb der Energiedebatte kommt dem Begriff "Versorgungslücke" eine grosse Bedeutung zu. Der Wirtschafts-Dachverband Economiesuisse warnt damit vor Importzwang und Infrastruktur-Defiziten, der Ökonom Rudolf Strahm hingegen vor Angstmacherei.

Würde der Strompreis bei einer Marktöffnung steigen?, fragen sich heute viele. Urs Näf, Energiespezialist des Wirtschafts-Dachverbandes Economiesuisse, verweist auf die jüngste Vergangenheit. Die Diskussion um Strompreiserhöhungen habe vor drei Jahren zu einer Flut von politischen Vorstössen geführt. «Damals ging es noch um 10%. Auf Grund der heutigen Lücke müsste man jetzt von einer Verdoppelung bis Verdreifachung des Strompreises ausgehen.»

Auch der unabhängige Ökonom, ehemalige Preisüberwacher und frühere sozialdemokratische Nationalrat Rudolf Strahm rechnet für den Fall einer Marktöffnung mit einer Preiserhöhung. «Es hat ja bereits Erhöhungen gegeben, in Graubünden und der Westschweiz.» Nur: In den nächsten Jahrzehnten würden die Preise für Wasser- oder fossile Energie ohnehin welt- und europaweit steigen. Und zwar unabhängig von der Energiepolitik in einem Land, sondern wegen der Marktverflechtung und der Verknappung der Energieträger.

Nationale Debatte bleibt partiell

Beobachtern drängt sich deshalb die Frage auf, weshalb trotz dieser Verflechtung in der Schweiz die Energiedebatte stark auf nationaler Basis geführt wird. «Weil man in der innenpolitischen Debatte auf den nationalen Energiesektor losgehen kann, in der Annahme, dort etwas bewirken zu können», sagt Strahm. «Auf die Elektrizitätswirtschaft, die teilweise von den Kantonen, also von der öffentlichen Hand dominiert wird.» 

Die Regeln seien für einen wesentlichen Teil des Strommarkts in der Schweiz völlig anders als in Europa, sagt Näf. Economiesuisse befürworte alle Aktivitäten zur Öffnung dieses Marktes. Denn in Sachen Strommarktöffnung befinde sich die Schweiz im Vergleich zur EU ziemlich im Hintertreffen. Das mache auch die Ankoppelung so schwierig.

Das EU-Regelwerk besage, dass jedes Land primär für seine Energie-Versorgung zuständig sei. Mit dem neuen Lissaboner Vertrag komme eine weitere Regelung hinzu, die für den Fall von Engpässen gegenseitige Belieferungen ermögliche. Das gelte aber nicht gegenüber Drittstaaten wie der Schweiz.

Illusion einer nationalen Versorgung

Es sei heutzutage «beinahe abwegig», in Europa eine Energiedebatte nur national zu führen, wie das in der Schweiz der Fall sei. Diese Denkweise führe dann zu Begriffen wie «Versorgungs-Lücke», die Strahm als «Drohvokabel» bezeichnet: Die Schweiz befinde sich längst im ständigen Austausch von Strom mit dem Ausland.

«Je nach Tagesgang importieren wir für fünf Minuten, wenn die ganze Nation gleichzeitig die Tagesschau einschaltet und im Grimsel die nächste Wasserturbine noch nicht hochgefahren ist», so Strahm. «Oder brauchen wir einen ununterbrochenen Nettoimport für die kältesten drei Wintermonate? Die ‹Stromlücke› ist ein Gummibegriff und abhängig von der Messmethode.»

Aber Strahm bestreitet nicht, dass es die Lücke gibt. «Auch der Begriff der ‹Versorgung› ist technisch sehr schwer kontrollierbar. Damit lässt sich Politik machen.»

Economiesuisse hingegen sieht die Lücke konkret kommen: «Seit über 40 Jahren wächst der Stromverbrauch respektive die Nachfrage konstant», sagt Näf – «trotz des Umsteigens auf neueste, energiesparende Technologien». Doch auf der Angebotsseite gebe es seit rund 15 Jahren kein neues Kraftwerk mehr.

Das habe dazu geführt, so Näf, dass jeweils im Winterhalbjahr rund 15% der Versorgung nicht mehr aus dem Inland gedeckt werden könne und deshalb Strom importiert werden müsse. Diese Situation werde wohl weiter anhalten, denn Näf rechnet nicht mit Kraftwerksbauten in naher Zukunft. «Das ist für uns die sich weiter öffnende Stromversorgungslücke.»

Separate Strompreise für Haushalt und Wirtschaft?

Weshalb die Strompreise nicht so stark schwanken wie die Benzinpreise, sei eine politische und technische Frage, sagt Strahm. «Beim Strom herrscht das Gefühl vor, er lasse sich viel besser steuern. Die Produzenten sind im Inland und gehören meist der öffentlichen Hand. Erdölkonzerne dagegen agieren global. Da glaubt man, dass nationalstaatliche Interventionen ohnehin aussichtslos sind.»

«Wegen dem politischen Widerstand ist eine Preiserhöhung nicht ganz einfach», sagt auch Näf. Damit der Verbraucher die Erhöhung wirklich spürt, müsste der Tarifanstieg 200 bis 300% betragen. Und das sei aus der Sicht von Economiesuisse heikel: «Denn es ist die Wirtschaft, die 60% des Stroms in der Schweiz verbraucht. Und je nach Stromintensität bei der Produktion wird der Strompreis zum wesentlichen Kostenfaktor.»

Im Ausland zahle die Wirtschaft in der Regel deutlich weniger für den Strom als die Privathaushalte. Förderungsbeiträge für neue Energien, in Deutschland im Stromtarif enthalten, würden der Wirtschaft zurückerstattet.

Energiekosten – noch ein kleiner Aufwandsposten

Strahm hingegen mahnt zur Vorsicht: Die Schweiz sei ohnehin ein Hochpreis- und Hochlohnland, so dass im Vergleich bei den allermeisten Exporteuren die Energiekosten nicht stark ins Gewicht fielen.

«Aber es gibt noch energieintensive Branchen, wo über 10% der Kosten auf Energie entfallen, etwa in der Papier-, Zement- oder Stahlproduktion. Hier ergibt sich tatsächlich ein Problem. Nur: Wie viele dieser Industrien sind überhaupt noch in der Schweiz verblieben? Sie wurden ausgegliedert, und zwar nicht wegen den Energiekosten.»

Im Fall dieser Branchen plädiert Strahm für eine Übergangslösung. «Ich fände es nicht abwegig, für diese Industrien gewisse Erleichterungen einzuplanen, solange sie zeitlich befristet bleiben.»

Am Mittwoch hat sich nach dem Bundesrat auch der Nationalrat mit grosser Mehrheit für einen Ausstieg aus der Atomenergie ausgesprochen.

Doch blieben Vorstösse für eine vorzeitige Stilllegung bestehender Atomkraftwerke chancenlos.

Der Nationalrat sprach sich aber gegen den Bau neuer AKW aus.

Ein Teil der Wirtschaft, nämlich die Cleantech, argumentiert weder wie economiesuisse noch wie die Stromlobby.

swisscleantech vertritt über 200 Unternehmen aus den Bereichen Stromversorgung und Umwelttechnologie und spricht sich für eine Energiewende aus.

Bertrand Piccard vom swisscleantech-Patronats-Komitee sieht darin auch eine wirtschaftliche Chance.

Der Solarpionier sieht momentan eine neue Industrie-Revolution kommen, da die Strategie des billigen Stroms am Ende sei.

Würden wirklich alle Kosten miteinberechnet, seien weder Atomstrom noch fossile Energieträger wirtschaftlich.

swisscleantech will den Anteil der erneuerbaren Energieträger von heute knapp 20% (nicht nur Strom, sondern alle Energieträger) bis 2050 auf 73% steigern.

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