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Syrien: Repression gegen Kinder als Explosivstoff

Weil er im April 2011 in Daraa an einer Demonstration teilgenommen hatte, wurde der 13-jährige Hamza al-Khatib gefoltert, mit Zigaretten verbrannt, verstümmelt, entmannt und einen Monat später mit gebrochenem Genick seinen Eltern übergeben. Facebook

In Syrien sind Kinder und Jugendliche ein besonderes Ziel von Präsident Assads Kräften gegen die Opposition. Die Auswirkung solcher Gräueltaten sind eine der Ursachen des Aufstands gegen sein Regime und eine Zeitbombe für das Land.

«Der Junge lag auf dem Boden. Er war ganz blau. Er blutete stark aus Ohren, Augen und Nase. Er schrie um Hilfe nach seiner Mutter und seinem Vater. Er fiel in Ohnmacht, nachdem er von einem Gewehrkolben auf den Kopf getroffen wurde.»

Der Junge, erst 14-jährig, hiess Thamir Al Sharee und war letzten Sommer in einem Gebäude des Geheimdienstes der Luftwaffe zu Tode gefoltert worden. Dies ist einer der Fälle, von denen ein Mithälftling des Jungen berichtet hat.

Der Fall wurde im November 2011 von der Kommission zur Untersuchung der Verletzung der Menschenrechte in Syrien veröffentlicht. Diese wird vom Brasilianer Sergio Pinheiro geleitet.

Ali Zeidan, ein in Genf lebender Syrier, erinnert daran, dass im März 2011 der Aufstand eigentlich wegen der Folterung von Jugendlichen, die in Daraa Anti-Assad-Slogans gesprayt hatten, begonnen hatte. «Es ist dies die einzige Gleichbehandlung, die dem Regime geglückt ist: Die Repression gegen alle Klassen und alle Generationen im Land.»

Das Kind ist König

Indem sich das Regime die Kinder und Jugendlichen vornimmt, wird ganz bewusst auf die traumatisierende Wirkung auf die Bevölkerung gezielt. Kinder sind seit Jahrhunderten Könige im Mittelmeerraum und im Nahen Osten, ganz egal in welcher Region.

«Indem es gegen die Kinder vorgeht, trifft das Regime das Herz der Familien, Stämme, Sippen und Gemeinschaften», sagt Yves Besson, Mitglied der Schweizerischen Vereinigung für den europäisch-arabisch-muslimischen Dialog.

«Doch schliesslich führt dieser abscheuliche Druck zu noch mehr Entschlossenheit seiner Gegner, was wiederum blutige Repressalien und Abrechnungen ohne Ende zur Folge hat. Das kann noch Monate so weitergehen.»

Unmögliche Mission

Angesichts der Unmöglichkeit, die Menschenrechts-Verletzungen in Syrien tatsächlich zu untersuchen – wie die kürzlich unternommene Beobachter-Mission der Arabischen Liga gezeigt hat –, spricht das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF von mehr als 400 getöteten und mehr als 400 gefangenen Kindern. Dies dürfte wahrscheinlich nur ein blasses Abbild der Wirklichkeit sein.

Der regionale UNICEF-Verantwortliche Jean-Nicolas Beuze bestätigt aus Amman in Jordanien: «Diese Zahlen sind ohne Zweifel nur die Spitze des Eisbergs. Sie wurden uns von glaubwürdigen UNO-Partnern, von lokalen, regionalen und internationalen Organisationen in- und ausserhalb des Landes gegeben.»

Für die jüngsten Angriffe auf Homs habe man noch keine Daten, so Beuze. Aber die UNICEF befürchte, dass auch diesmal wieder viele Frauen und Kinder Opfer geworden seien, weil ganze Wohnquartiere bombardiert worden seien.

Doch die Herausforderung für die UNICEF sind weniger das quantitative Abschätzen als die Auswirkungen der Repression auf die Kinder, «auf die Umgebrachten, die willkürlich Festgenommenen, auch sexuell Gefolterten», sagt Beuze.

Und das sei nicht alles: Zahlreiche Kinder hätten keinen Zugang mehr zu Schulen. Andere Kinder, wie andere Opfer, hätten keinen Zugang zu Gesundheitszentren. Angesichts der Repressalien seien weder Spitäler noch Ambulanzen sicher.

Verfolgte Ärzte

Die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» hat kürzlich eine ganze Reihe von erdrückenden Berichten publiziert, wie jenen eines syrischen Arztes, wonach die Ärzte, die die Verwundeten zu pflegen versuchen, ihrerseits von den Sicherheitskräften verfolgt werden. «Dennoch riskiert ein grosser Anteil der Ärzte ihr Leben, um ihrem ärztlichen Versprechen nachzukommen.»

Beuze weist darauf hin, dass die Behörden verpflichtet seien, alle möglichen Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu unternehmen. Beim Versuch, das Schicksal der syrischen Jugend etwas zu lindern, arbeitet UNICEF mit dem syrischen Roten Halbmond zusammen.

«Wir erarbeiten Massnahmen für die Kinder, die von der Ausbildung abgeschnitten wurden und stellen Auffanglager auf, die wenigstens eine gewisse Schulung absichern.» UNICEF kümmere sich auch um die Ausbildung der Lehrer und Partner, damit sie traumatisierte Kinder besser identifizieren und sich um sie kümmern können.

Wird die Justiz sie einholen?

Navi Pillay, UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, hat kürzlich gewarnt: «Alles weist darauf hin, dass die syrische Armee und die Sicherheitskräfte an den meisten Verbrechen mitbeteiligt sind. In Anbetracht der Art und des Umfangs handelt es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und diese werden durch das Völkerrecht bestraft.»

Pillay erinnert die Machthaber auch daran, dass es für solche schwerste internationale Verbrechen keine Verjährung gebe. Die Bemühungen der Justiz würden so lange wie nötig fortgesetzt, um allen Opfern des heute in Syrien betriebenen systematischen Verbrechens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Am 18. Mai 2011 erliess der Bundesrat eine Verordnung über Massnahmen gegenüber Syrien.

In Übereinstimmung mit dem Embargogesetz hat sich die Schweiz damit den Sanktionen der EU vom 9. Mai 2011 gegen Syrien angeschlossen.

Diese Sanktionen sehen ein Embargo für Rüstungsgüter, das Einfrieren von Guthaben und Reisebeschränkungen vor.

Weitere Massnahmen betreffen (Einfuhr-)Verbote von Erdöl und Derivaten.

Im August 2011 hat das Aussenministerium den Botschafter zurückgerufen, um gegen die systematische Verletzung der Menschenrechte gegenüber Demonstrierenden zu protestieren.

Die Botschaft in Damaskus und das Programmbüro bleiben aber geöffnet und funktionsfähig.

Die Schweiz intervenierte verschiedentlich beim UNO-Rat für Menschenrechte wegen den in Syrien und anderen Ländern der Region begangenen Rechtsverletzungen.

(Auszüge aus dem Aussenpolitischen Bericht 2011)

(Mitarbeit Abdelhafidh Abdeleli; Übertragen aus dem Französischen: Alexander Künzle)

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