Syrische Opposition verlangt Schutz für Zivilisten
Burhan Ghalioun, Chef des syrischen Nationalrats (SNC), betonte letzte Woche in Genf bei einem Treffen mit der US-Aussenministerin Hillary Clinton, dass "die Zivilbevölkerung geschützt werden muss".
Clinton erklärte, es sei nötig, «eine auf Gesetze und Respekt von Minderheiten basierende Gesellschaft aufzubauen», sollte Präsident Bashar al-Assad aus dem Amt vertrieben werden.
Die USA haben mehrmals verlangt, dass dieser zurücktritt, nachdem er vor acht Monaten begonnen hatte, die Revolution zu bekämpfen.
In einem Exklusiv-Interview mit swissinfo.ch sprach Ghalioun nach seinem über eine Stunde dauernden Treffen mit Clinton über die Unterstützung des SNC durch die USA und die Frage der Anerkennung des Oppositionsrats.
Ghalioun erklärte auch seine Position zu den Bemühungen, die Opposition um ein «einheitliches Programm unter der Obhut der Arabischen Liga» herum zu einen und sprach darüber, was die syrische Opposition von der Schweiz erwarte.
swissinfo.ch: Sie haben Clinton zusammen mit sechs Vertretern des syrischen Nationalrats letzte Woche in Genf getroffen. Wer hatte dieses Treffen gewünscht?
Burhan Ghalioun: Wir stehen bereits seit einiger Zeit in Kontakt mit dem diplomatischen Dienst der USA. Diese haben auch Kontakt mit den Europäern und den Arabern.
Das Treffen aber hat auf Wunsch der USA stattgefunden. Ich glaube, es ging ihnen auch darum, ihre Unterstützung der Rechte des syrischen Volkes zu unterstreichen, wie auch die Bemühungen des SNC, dem Volk beim Erreichen seiner Ziele behilflich zu sein.
swissinfo.ch: Welches sind die wichtigsten Punkte, die Sie mit der US-Delegation in Genf diskutiert haben?
B.G.: Unsere Ziele stehen in Übereinstimmung mit arabischer und internationaler Diplomatie. Das Wichtigste ist jetzt, dass das Volk die dringend benötigte humanitäre Hilfe erhält.
Dieses steht in den betroffenen Städten vor einer regelrechten Katastrophe, in Hamah, Homs und in allen anderen syrischen Städten. Die öffentliche Sicherheit ist weitgehend zusammengebrochen. Es gibt Morde, Entführungen, Vergewaltigungen und Zerstörung von Häusern.
Wir haben den Amerikanern wie auch anderen diplomatischen Diensten eingeschärft, dies müsse ein Ende finden und es müssten Massnahmen ergriffen werden, um Hilfslieferungen zur betroffenen Bevölkerung zu ermöglichen.
Natürlich ist der zweite Punkt, den wir mit ausländischen Regierungen immer besprechen, der Schutz der unbewaffneten Zivilisten, von denen jeden Tag einige durch das Regime umgebracht werden.
Wir sind der Meinung, dass die internationale Gemeinschaft, die Amerikaner eingeschlossen, nicht einfach zusehen kann und die Schaffung von Mechanismen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Syrien nicht behindern darf.
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swissinfo.ch: Wie haben die Amerikaner auf Ihre Bitten reagiert? Wie haben Sie das Treffen wahrgenommen?
B.G.: Die USA haben betont, dass sie mit anderen arabischen und internationalen diplomatischen Diensten kooperieren. Sie haben mehr als einmal bereits erklärt, wie wichtig es sei, dass die Araber die Hauptrolle bei künftigen Plänen zum Schutz der Zivilbevölkerung spielen sollten.
Die Amerikaner glauben, dass sie Verantwortung tragen – dies aber zusammen mit anderen Staaten, besonders mit der Gruppe der arabischen Staaten.
swissinfo.ch: Einige Stimmen haben kürzlich humanitäre Korridore gefordert, um syrischen Zivilisten Hilfsgüter zukommen zu lassen. Wie steht der SNC dazu?
B.G.: Wir haben gesagt, dass alle Optionen auf dem Tisch sind, um internationalen Schutz für die Zivilisten zu sichern, die Tötungsmaschine zu stoppen und das Regime dazu zu bringen, die Menschenrechte zu respektieren sowie den Betroffenen humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.
Dieser Punkt wird derzeit von ausländischen diplomatischen Diensten, dem SNC und der syrischen Opposition diskutiert.
swissinfo.ch: Als der SNC im Oktober entstanden ist, verlangte er nach internationaler Anerkennung und drängte auf den Schutz der Zivilbevölkerung. Was wurde bisher erreicht?
B.G.: Es gibt eine internationale Anerkennung des SNC. Die Tatsache, dass wir uns in Genf mit einer hochrangigen US-Delegation getroffen haben, angeführt von Aussenministerin Hillary Clinton, bedeutet, dass wir als politische Organisation anerkannt werden, die den Willen des syrischen Volkes für einen Wechsel repräsentiert. Warum sonst hätte dieses Treffen stattgefunden?
Wir sind aber noch nicht eine Schattenregierung, die an Stelle der alten Regierung anerkannt werden kann. Wir werden jedoch als treibende Kraft in der Organisation des Kampfs des syrischen Volkes um die Befreiung von der gegenwärtigen Regierung angesehen.
swissinfo.ch: Es ist bekannt, dass innerhalb der syrischen Opposition noch Uneinigkeit herrscht. Haben Sie das Gefühl, diese könnte dazu führen, dass die internationale Gemeinschaft sich länger damit Zeit lässt, die Opposition statt das Regime anzuerkennen?
B.G.: Das stimmt, aber kein Land hat eine einzige, geeinte Opposition. Das ist aber auch nicht nötig. Was von uns verlangt wird und auch unsere Pflicht im SNC ist – und von dem ich glaube, dass wir in diese Richtung arbeiten –, ist, die Pläne der Opposition zusammenzuführen und eine konsolidierte Vision zu entwickeln, eine einzige Arbeitsplattform und eine einzige Roadmap für die syrische Opposition mit ihren verschiedenen Trends und Richtungen. Heute aber vertreten wir die grösste, stärkste und repräsentativste Partei.
Wir sind jedoch der Meinung, dass die Opposition einen gemeinsamen Plan finden muss. Das ist jetzt in Kairo geschehen, wo sich die verschiedenen Oppositionsparteien auf ein gemeinsames Arbeitspapier geeinigt haben.
Wir werden in den nächsten Tagen eine Konferenz der Opposition unter Aufsicht der Arabischen Liga abhalten, um dieses Papier zu diskutieren und einen gemeinsamen Standpunkt für die syrische Opposition zu finden.
swissinfo.ch: Hatten Sie hier in Genf Kontakt mit den Schweizer Behörden? Was erwartet der SNC in dieser Phase von Bern?
B.G.: Ganz sicher hat die Schweiz eine Rolle, die syrische Opposition zu unterstützen und die unbewaffnete Bevölkerung vor Angriffen zu schützen. Ich glaube, das Gewicht der Schweizer Diplomatie sollte man nicht herunterspielen. Ihr Beitrag ist erwünscht, nicht nur vom SNC, sondern auch vom syrischen Volk.
In Syrien leben 22,5 Millionen Menschen, die Hälfte davon in städtischen Gebieten. 52% sind unter 25 Jahre alt.
Der Grossteil der Bevölkerung ist arabischen Ursprungs: andere ethnische Gruppen sind Kurden, Armenier, syrische Christen (Assyrer), Tscherkessen und Turkmenen.
Neben der einheimischen Bevölkerung leben einige 100’000 Palästinenser und Iraker im Land.
Die Sunniten sind mit 72% der Bevölkerung die grösste religiöse Gemeinschaft; es gibt aber auch Schiiten und verschiedene muslimische Sekten wie die Ismaeliten oder die Alewiten, zu denen die Assad-Familie gehört.
Rund 10% sind Christen, aufgeteilt in verschiedene orthodoxe und katholische Kirchen, mit ein paar wenigen Protestanten.
Schliesslich sind einige Menschen jesidischen Glaubens, eine Religion kurdischen Ursprungs.
Das moderne Syrien hat seine Unabhängigkeit von Frankreich 1946 erreicht. Es folgten Phasen politischer Instabilität, weil verschiedene Gruppen um die Macht kämpften.
Gefragt, ob die Schweiz den neu formierten Syrischen Nationalrat anerkenne, antwortete das Aussenministerium, die Schweiz anerkenne Staaten, nicht Regierungen.
«Die Schweiz hat verschiedentlich die systematische Verletzung von Menschenrechten verurteilt, welche die syrischen Sicherheitskräfte begangen haben», sagte eine EDA-Sprecherin.
«Die Schweiz begrüsst jegliche Initiative, die darauf abzielt, die fundamentalen Rechte der syrischen Bevölkerung zu verteidigen», so die Sprecherin weiter.
Die Schweiz hat Sanktionen gegen 74 syrische Personen und 19 syrische Unternehmen ergriffen. Diese umfassen ein Visumsverbot und das Einfrieren aller Vermögenswerte. Die Sanktionen beruhen auf einer Liste, die von der EU aufgestellt wurde.
(Übertragen aus dem Arabischen von Muhammad Shokry)
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