Tabubruch nach der Sommerpause
Anfang Juli entbrannte ein Steit um die Senkung der Minimalverzinsung der Beruflichen Vorsorge.
Nach den Polemiken kommen jetzt die Sachzwänge zum Vorschein.
Als Anfang Juli in der Schweiz der Streit um die Minimalverzinsung der Guthaben der Beruflichen Vorsorge ausbrach, war die Schweiz für einmal schneller als andere Länder. Seither macht man sich auch in anderen europäischen Staaten ähnliche Sorgen.
In Deutschland zum Beispiel ist eine Mindestrendite von 3.25% bei Lebensversicherungen gesetzlich garantiert. Noch Anfang August lag, so eine jüngst erhobene Umfrage der deutschen Nachrichtenagentur dpa, die durchschnittliche Verzinsung knapp über 6%. Doch beginnt sich in Deutschland abzuzeichnen, dass die 3,25% Mindestzins für einzelne Versicherer zum Problem werden könnte.
Technischer Zinssatz gesenkt
Auch zahlreiche Schweizer Lebensversicherer haben seit längerem den technischen Zinssatz für Sparkapital für die freie Vorsorge bis auf 2,5% gesenkt.
Bei der Beruflichen Vorsorge sind diese Renditenbewegungen als Indiz vergleichbar. Bei der Lebensversicherung gehört zusätzlich die Auszahlung im Todesfall dazu. So sind die Richtung und damit die Sachzwänge in der individuellen Kapitalversicherung global dieselben: Die Rendite zeigt nach unten, was jetzt besonders in der Schweiz zu Streit geführt hat.
11’000 Franken pro Kopf
Dass es viel zum Streiten gibt, zeigen die Zahlen: Die Schweiz ist in dieser Versicherungsart im europäischen Vergleich Spitzenreiterin. 1997 zahlten die obligatorisch Versicherten insgesamt 21 Mrd. Euro (rund 31 Mrd. Franken)in ihre Vorsorge-Einrichtungen ein – 11’000 Franken pro Beitragszahler (Statistisches Amt der EU, Eurostat).
Warnung vor Panikmache
In der Schweiz geht es um die Folgen einer möglichen Senkung der Minimalverzinsung von 4% (seit 1985). Diese Verzinsung muss von allen Anbietern der Beruflichen Vorsorge (BV, der «Zweiten Säule» der Schweizerischen Altersversicherung) gesetzlich garantiert werden. Mitte August hätte das Schweizerische Bundesamt für Privatversicherung informieren sollen – doch die Medienkonferenz wurde verschoben. In Deutschland warnt die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gar «vor Panikmache». Es gehe nicht um Verluste, sondern um einen geringeren Gewinn.
Mindest-Leistung nicht mehr zu erbringen?
Doch in der Schweiz geht es nicht um einen geringeren Gewinn, sondern um den Tabubruch einer geringer als bisher garantierten Rentenhöhe, für die die Institution der Beruflichen Vorsorge gerade steht.
Die Versicherer versichern nämlich, dass nach zwei Jahren Börsenbaisse das Geschäft mit der Altersversicherung für die Privatversicherungen «kein Geschäft» mehr sei, wenn 4% Rendite vorgeschrieben werden.
Der Bundesrat resp. die Schweizer Regierung, so hoffen sie, werde deshalb voraussichtlich nach der Sommerpause eine Senkung auf 3% dekretieren, oder die Mindest-Vorschrift gleich völlig abschaffen.
Kompromiss von 3,5%?
Finanzkreise rechnen damit, dass eine Senkung des Mindestzinssatzes kommt, falls der Verlauf der Börse gleichbleibt. Im Gespräch ist auch eine Kompromisslösung von 3,5%. Ein halber Prozentpunkt mehr oder weniger Rendite entspricht bei den zu verzinsenden Riesensummen an Alterskapitalien schnell einer mehrstelligen Anzahl von Millionen.
Damit wäre aber die ebenfalls gesetzlich vorgesehene garantierte Mindest-Rentenhöhe von 60% des letzten Lohnes in Frage gestellt. Hatte der Gesetzgeber 1985 Mindest-Leistungen versprochen, die die Wirtschaft schon heute nicht mehr erbringen kann?
Alexander P. Künzle und swissinfo
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