Tiefere Renten: Ohrfeige findet Widerhall in der Presse
Das deutliche Nein des Stimmvolks zum tieferen Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge ist ein Misstrauensvotum für Politik und Finanzbranche, ist sich die Presse einig. Nun steht die Frage einer gesicherten Zukunft der Sozialversicherungen zur Debatte.
«Volk hat die Nase voll», «Mehr als ein Denkzettel», «Starke und verdiente Ohrfeige», «Vertrauen verloren» oder sogar «Bundesrat gedemütigt» titeln die Zeitungen am Montag ihre Kommentare.
«Eine derart vernichtende Niederlage wie am Wochenende haben die bürgerlichen Parteien noch selten erlitten», schreibt die Basler Zeitung.
Noch stärker aber als den Politikern gelte das überdeutliche Nein zur Rentensenkung der Wirtschaftselite in der Banken- und Versicherungsbranche.
«Das Volk bis weit hinein ins bürgerlich denkende Lager hat die Nase gestrichen voll von Machenschaften mit schnellen Gewinnen, waghalsigen Spekulationen und hohen Boni.»
Wenn bei einer Abstimmung also fast drei Viertel der Stimmenden den Linken und Gewerkschaften folgten, sei es mehr als richtig, deren Forderungen wie strengere Anlagevorschriften, mehr Transparenz bei der Verwendung der Versichertengelder und tiefere Verwaltungskosten ernst zu nehmen, so die BaZ.
Protestvotum
Ins gleiche Horn stösst die Aargauer Zeitung: «Den Stimmbürgern ging es um mehr als um eine ökonomische Rechnung. Es ging darum, dass wieder der kleine Mann hätte bluten müssen.»
Es sei am Wochenende um sehr viel mehr gegangen als nur um die Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge. Das Stimmvolk habe generell gegen Auswüchse in der Finanzbranche protestiert.
«Das Volk stimmt traditionellerweise pragmatisch und schluckt auch mal eine Kröte; wer ausser den Schweizern stimmt freiwillig einer höheren Mehrwertsteuer zu? Umso mehr muss das wuchtige Nein von gestern die Politiker aufschrecken: Die Bürger haben das Vertrauen verloren. Entweder gelingt es den Politikern, zu beweisen, dass sie sich für den Normalbürger einsetzen. Oder sie müssen sich an Protest-Abstimmungen gewöhnen.»
Genug
Das Boulevardblatt Blick sieht das ganz ähnlich, bringt es aber kürzer auf den Punkt: «Das ist keine Ohrfeige, das ist ein Kinnhaken. Das Nein von gestern ist ein lautes ‹Jetzt reicht’s!› in die Chefetagen der Finanzindustrie und ihrer Statthalter in Bundesrat und Parlament. Hoffentlich wird es verstanden!»
Mehr als nur einen Denkzettel sehen Tages Anzeiger und Der Bund im Abstimmungsresultat vom Wochenende: «Es zeigt der Politik, wie schwierig künftige Reformen sein werden», heisst es im gemeinsamen Kommentar.
Reine Abbauvorlagen bei den Altersversicherungen seien im Volk chancenlos, so der Kommentator. «Nur eine technische Begründung für einen Rentenabbau zieht nicht. Ohne flankierende Massnahmen für Kleinverdiener, die letztlich Mehreinnahmen erfordern, ist ein tieferer Umwandlungssatz nicht mehrheitsfähig.»
«Auch wenn die Botschaft des Stimmvolks klar und deutlich scheint, ist ihre Übersetzung alles andere als einfach», schreibt der Corriere del Ticino. «Denn es reicht nicht, per Dekret zu entscheiden, dass die Renten nicht angerührt werden dürfen.»
«Rot vor Wut»
«Rot vor Wut» überschreibt die Westschweizer Tageszeitung Le Temps ihre Grafikkarte der Schweiz, die alle Kantone einheitlich in Rottönen zeigt. In keinem einzigen Kanton konnte das Stimmvolk der Behördenvorlage am Wochenende etwas Positives abgewinnen.
«Die Abstimmung fand in einem sehr wackligen Umfeld statt. Die Finanzwelt, in der die Versicherer daheim sind, ist für eine der schlimmsten Krisen verantwortlich, die die Schweiz je erlebt hat.»
Schlechtes Timing attestiert auch 24 heures der Politik. Die Komplexität der zweiten Säule habe auch nicht gerade geholfen: «Die Vorlage und ihre Mechanismen zu vereinfachen, kam der Quadratur des Kreises gleich.»
Die Zukunft der Sozialwerke in der Schweiz verspreche nichts Gutes, so der Kommentar: «Gewinner und Besiegte haben eine grosse Verantwortung vor sich.»
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Zweite Säule
Lehren ziehen
In die Zukunft schaut auch die Neue Zürcher Zeitung. Das deutliche Ergebnis erschwere die Sanierung der Sozialwerke, so der Tenor. Nun seien Realitätssinn und langer Atem gefragt.
«Der einzige Trost für die Anhänger eines nachhaltig finanzierten Sozialstaats: Ein Nein zu Leistungskürzungen bedeutet erfahrungsgemäss kein Ja zu einem Ausbau des Sozialstaats.»
Die Berner Zeitung wünscht sich, dass Bundesrat und Parlament die richtigen Lehren aus dieser «bösen Schlappe» ziehen. «Die da lauten, das System der beruflichen Vorsorge zu entschlacken und zu vereinfachen.»
Die Schweiz habe ein System verdient, das es mit vernünftigen Aufwand auch verstehen könne, so der Kommentator: «Die öffentlichen Debatten haben gezeigt, dass selbst Leute, die sich beruflich mit der Materie auseinandersetzen, überfordert sind. Ein System, das kaum verständlich ist, kann nicht transparent sein. Einem System, das nicht transparent ist, kann man kein Vertrauen schenken. Und wenn man kein Vertrauen hat, sagt man an der Urne Nein. Recht geschehen.»
Mit der Frage der Zukunft der zweiten Säule befasst sich auch die Neue Luzerner Zeitung: «Nun müssen die Gegner der Vorlage den Tatbeweis erbringen, dass mit mehr Transparenz und weniger Verwaltungskosten bei den Pensionskassen wirklich so viele Milliarden einzusparen sind, dass die Renten nicht sinken müssen. Sonst bleibt nur eine Beitragserhöhung, um die Probleme der zweiten Säule bei sinkenden Renditen und steigender Lebenserwartung zu lösen.»
Christian Raaflaub, swissinfo.ch
Folgende Behörden-Vorlagen wurden mit mindestens 72% Nein-Mehrheiten verworfen:
27.9.1992: Bundesgesetz über die Entschädigung von Bundesparlamentariern: 72,4% Nein.
16.3.1986: UNO-Beitritt (Obligatorisches Referendum): 75,7 % Nein.
28.11.1982: Gegenentwurf zur Volksinitiative «zur Verhinderung missbräuchlicher Preise»: 78,4% Nein.
5.10.1952: Bundesbeschluss über den Einbau von Luftschutzräumen in bestehenden Häusern: 84,5% Nein.
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