Die Volksinitiative oder alle drei Monate eine Revolution
Die Volksinitiative ist ein wirksames Mittel für Stimmbürger, gegen den Willen von Parlament und Regierung Veränderungen von unten anzustossen. Die meisten Initiativen scheitern an der Urne. Dennoch: Oft haben sie entscheidenden Einfluss auf die Politik.
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Am 26. November 1989 stand die Schweizer Politik unter Schock. An diesem Tag stimmte das Volk über eine Initiative ab, welche die Abschaffung der Armee forderte. Das von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) lancierte Begehren wurde verworfen.
+ Sehen Sie hier: Das ist eine Volksinitiative und so direkt wirkt sie.
Für Erstaunen und Entrüstung sorgte jedoch, wie viel Zuspruch die Initiative trotz ihres radikalen Inhalts erhielt: 36% der Stimmenden sprachen sich dafür aus, die Schweizer Armee ersatzlos zu beerdigen.
Der Abstimmungssieg war, nüchtern betrachtet, deutlich. Normalerweise spricht man bei einem Nein von 64% von einer Abfuhr. Nicht hier. Für das Militär und die politische Elite war dies eine gefühlte Niederlage.
Und sie blieb nicht ohne Folgen: Fortan wurde die Armee, die im Kalten Krieg als «heilige Kuh» galt, seltener mit Samthandschuhen angefasst. Als die GSoA Mitte der 1990er-Jahre eine weitere Initiative einreichte, die den Export von Kriegsmaterial verbieten wollte, reagierten Bundesrat und Parlament frühzeitig: Sie verschärften die gesetzlichen Grundlagen für die Ausfuhr von Waffen, um den Initianten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Strategie ging auf: Die Initiative wurde abgelehnt – der Anteil der Ja-Stimmen betrug diesmal nur etwas über 20%.
Radikales Instrument
Mit der Volksinitiative können 100’000 Stimmberechtigte eine Änderung der Bundesverfassung zur Abstimmung bringen. Seit 1891, als die Initiative auf Teilrevision der Verfassung eingeführt wurde, wurden über 400 Initiativen lanciert.
Ein grosser Teil davon kam allerdings nie vors Volk, weil die nötigen Unterschriften nicht zusammenkamen oder die Initiative vor der Abstimmung zurückgezogen wurde. Von den 209 Initiativen, über welche die Stimmbürger abstimmten, wurden fast 90% abgelehnt.
Die die Initiativen zur Armeeabschaffung und zu den Kriegsmaterialexporten zeigen, können aber auch abgelehnte Initiativen eine Wirkung entfalten. Etwa, indem das Parlament einer Initiative einen direkten Gegenvorschlag gegenüberstellt, so dass die Stimmberechtigten zwischen diesem und der Initiative entscheiden können. Oder, indem es einen indirekten Gegenvorschlag in Form einer Gesetzesänderung beschliesst. Oder schlicht, indem ein Thema öffentlich diskutiert und ins Bewusstsein der Leute gerückt wird.
Themenführerschaft und Deutungshohheit
So lancierte der Bauernverband eine «Ernährungssicherheits-Initiative», die in die Verfassung schreiben wollte, dass der Bund die Versorgung mit einheimischen Lebensmitteln stärkt. Er löste damit einen Gegenvorschlag aus, der weniger weit ging und lediglich unverbindlich festhielt, dass der Bund die Grundlagen der landwirtschaftlichen Produktion sichern und eine marktorientierte und ressourceneffiziente Landwirtschaft fördern sollte.
Die Stimmberechtigten sagten im September Ja zum Begehren, also dem «Original». Ob die Verfassungsänderung aber nennenswerte konkrete Auswirkungen haben wird, steht noch in den Sternen. Immerhin schaffte es der Bauernverband mit seiner Initiative aber, dass die Politik mehrere Jahre lang über das Thema Ernährungssouveränität diskutierte.
Serie «Toolbox»
Die Schweiz ist eine Kombination von indirekter und direkter Demokratie. Letztere ist so stark ausgebaut wie in keinem anderen Land. Dies zeigt sich u. a. in mehr als 620 nationalen Abstimmungen – «Weltrekord».
In einer #DearDemocracy-Serie beleuchtet Lukas Leuzinger die wichtigsten und grundlegenden Instrumente, Mechanismen und Prozesse der direkten Demokratie in der Schweiz.
Der Autor studierte Politikwissenschaften an der Universität Zürich. Heutet arbeitet er als Journalist und ist Mit-Betreiber des Politblogs «Napoleon’s Nightmare».
Ähnliche Absichten dürften andere Verbände verfolgen, die eigene Initiativen lancierten. So etwa die Pflege-Initiative des Verbands des Pflegepersonals, welche eine Förderung der Ausbildung und eine angemessene Entlohnung von Pflegerinnen und Pflegern fordert. Oder die Velo-Initiative von Pro Velo, die eine Förderung von Velowegen durch den Bund zum Ziel hat.
Die Volksinitiative ist, zumindest im Vergleich mit den verfassungsmässigen Instrumenten in den meisten westlichen Demokratien, ein radikales Instrument. Es handelt sich um ein Mittel, um Veränderungen von unten anzustossen. Die Grenzen des inhaltlich Erlaubten sind dabei relativ weit. Tatsächlich fordern Initiativen oft sehr grundlegende Änderungen des bestehenden Rechts, so dass im Prinzip alle drei Monate eine kleine Revolution zur Debatte steht.
Gegen den Willen von «denen da oben»
Initiativen richten sich gemäss ihrer Natur gegen den Willen der Mehrheit in der Regierung und im Parlament und sind für diese entsprechend unbequem. Die Behörden müssen stets damit rechnen, dass das Volks eine Verfassungsänderung annimmt, die ihre Pläne durchkreuzt. Deshalb nehmen sie Anliegen von Initiativen oft auf und versuchen, mit einer weniger weitgehenden Lösung die Annahme des Volksbegehrens zu verhindern.
Die Juristin Gabriela Rohner hat alle Volksinitiativen von 1891 bis 2010 untersucht und gezeigt, dass diese zwar selten angenommen, aber dennoch oft zumindest einen Teilerfolg erreichten. Fast die Hälfte der zustande gekommenen Initiativen führten zu einer Änderung in der Rechtsordnung, entweder direkt durch die Annahme in der Volksabstimmung oder – was deutlich häufiger vorkam – indirekt durch einen Gegenvorschlag.
Nimmt man die Gesetzesänderungen hinzu, die zwar nicht formal mit einer Volksinitiative zusammenhängen, aber dennoch von einer solchen angestossen wurde, liegt die Erfolgsquote noch höher.
Vom Start weg in der Kritik
Der Name Volksinitiative impliziert, dass das Instrument vom «Volk», von einfachen Bürgern ohne politisches Mandat, verwendet wird. Zwar gibt es immer wieder Komitees, die es ohne die Unterstützung von Politikern oder eines starken Verbandes, dafür mit einem populären Thema und viel Engagement schaffen, eine Initiative an die Urne zu bringen und dort sogar Erfolg zu haben.
Ein Beispiel ist die Unverjährbarkeitsinitiative, mit der eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern strengere Gesetzesbestimmungen für sexuelle Straftaten an Kindern durchbrachte.
In den meisten Fällen werden Initiativen aber von organisierten Interessen, politischen Parteien oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen lanciert. In jüngerer Vergangenheit wurde wiederholt Kritik laut, Initiativen würden von den Parteien missbraucht, um Wahlkampf zu machen.
«Initiativenflut» – Dichtung oder Wahrheit?
Generell gibt es immer wieder Stimmen, die monieren, es würden zu viele Initiativen lanciert. Deshalb müssten die Hürden erhöht werden, etwa durch Heraufsetzung der Unterschriftenzahl (aktuell 100’000).
Die Kritik an der Volksinitiative ist so alt wie die Volksinitiative selbst. Dass Politiker keine Freude daran haben, wenn politische Entscheide an ihnen vorbei gefällt werden, ist wenig erstaunlich. Die Volksinitiative beschneidet den Einfluss von gewählten Mandatsträgern und Lobbyisten.
Dafür bietet sie einen zusätzlichen Kanal, um neue Vorschläge und Interessen in den politischen Prozess einzubringen, die sonst unberücksichtigt blieben. Damit ermöglicht die Volksinitiative nicht nur, neue Ideen gegen den Widerstand etablierter Kräfte zum Durchbruch zu verhelfen, sondern sie stellt auch ein wichtiges Instrument der politischen Integration dar.
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