Schweizer Parlamentarier fordern schärfere Gangart gegenüber Ankara
Im Schweizer Parlament ist man angesichts der jüngsten Repressionswelle in der Türkei entsetzt. Grundsätzlich wird der Dialog mit Ankara unterstützt, doch einige Parlamentarier sind der Meinung, dass die Schweizer Regierung mehr Druck ausüben sollte, damit in der Türkei rechtsstaatliche Prinzipien wiederhergestellt werden. Entsprechende Vorstösse werden demnächst eingereicht.
Die jüngsten Nachrichten aus der Türkei sind äusserst beunruhigend: Die Verteidigerrechte werden eingeschränkt, 11’000 Lehrer vom Dienst suspendiert, der Chefredaktor und 12 Journalisten der Tageszeitung «Cumhuriyet» verhaftet. Genauso wie die Führer der kurdenfreundlichen Linkspartei HDP (Demokratische Partei der Völker), Selahattin Demirtas und Figen Yukseldag, und mit ihnen neun weitere Abgeordnete. Dazu kommt die Ankündigung der Regierung, die Todesstrafe wieder einführen zu wollen.
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Die Ausweitung der Repressionsmassnahmen unter Präsident Recep Tayyip Erdogan erfolgte just, während eine Schweizer Parlamentarier-Delegation in der Türkei weilte. Zugleich empfing der Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu in Bern.
«Die Situation lief aus dem Ruder: Das war sehr beunruhigend», schildert SVP-Ständerat und Delegationsmitglied Hannes Germann seine Eindrücke. Die Parlamentarierreise mit mehreren Treffen in der Türkei fand zwischen dem 31. Oktober und 4. November statt. Wie sehr die sechs Ständeräte der aussenpolitischen Kommission der Kantonskammer verstört waren, konnte man danach aus ihren Gesichter während eines Treffens mit Journalisten ablesen.
Angesichts der vor Ort gesammelten Erkenntnisse sind sich die Parlamentarier in einer Sache einig: Die Schweiz muss ihren Dialog mit der Türkei fortsetzen. Diese Haltung entspricht ganz der Haltung des Schweizer Aussenministers Didier Burkhalter. «Wir setzen auf den klaren und direkten Dialog. Das ist keine Garantie für den Erfolg, aber ich glaube, es ist der einzig richtige Weg», sagte Burkhalter in der «SonntagsZeitung» nach seinen Gesprächen vom 3. November mit Mevlüt Cavusoglu.
In den Gesprächen wurden Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien in der Türkei deutlich. «Es gibt noch viel Diskussionsstoff,» präzisierte Burkhalter in Bern an der gemeinsamen Medienkonferenz mit Cavusoglu. Ein weiteres Treffen der beiden Minister, das vierte innert eines guten halben Jahres, ist für Mitte Dezember vorgesehen. Das genaue Datum steht laut Aussenministerium (EDA) noch nicht fest.
Dialog weiterführen
Einige Parlamentarier fordern derweil, dass Bern die Türkei schärfer ins Gebet nehmen sollte. In der nächsten Parlamentssession, die am 28. November beginnt, soll diese Forderung formal an die Regierung gestellt werden.
«Der Bundesrat muss klar sagen, dass die Verhaftung demokratisch gewählter Abgeordneter nicht mit unserem Verständnis von Demokratie vereinbar ist», hält die Basler Nationalrätin Sibel Arslan von den Grünen fest. Die Co-Präsidentin der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Türkei erklärt gegenüber swissinfo.ch, dass ihre Partei demnächst entsprechende Vorstösse einreichen werde.
EDA mahnt Freiheitsrechte an
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) teilt auf Anfrage von swissinfo.ch mit: «Das EDA vertritt die Interessen der Schweiz und nutzt den Dialog, um die Solidarität der Schweiz mit allen Opfern der Gewalt in der Türkei auszudrücken und sich für die Demokratie einzusetzen.
Bundesrat Burkhalter hat seinem Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu beim offiziellen Besuch vom 3. November klar mitgeteilt, dass der Ausnahmezustand nach dem Putschversuch die fundamentalen Freiheitsrechte nicht ausser Kraft setzen darf. Die Stabilität und die Demokratie in der Türkei und der ganzen Region liegen im Interesse der Schweiz.»
«Die Schweiz muss eine klare Haltung in dieser Angelegenheit einnehmen, denn die Situation in der Türkei ist in keiner Weise mehr rechtsstaatlich. Der Kampf gegen den Terrorismus dient nun als Vorwand für willkürliche Verhaftungen, von denen Richter, Lehrer, Intellektuelle und Parlamentarier betroffen sind», doppelt Nationalrat Karl Vogler von den Christdemokraten nach. Auch er will im Parlament in dieser Sache seine Stimme erheben. Allerdings will er zuvor noch mit dem EDA sprechen, um sich abzusichern, dass die Forderung nach einer aktiveren Politik der Schweiz den eingeschlagenen Weg des Dialogs nicht kompromittiert.
Auch Sibel Arslan betont die Wichtigkeit, die Diskussionen mit Ankara fortzusetzen: «In der Türkei leben Millionen von Menschen, die mit dem Kurs der Regierung überhaupt nicht einverstanden sind. Wenn wir den Dialog aussetzen und keine gute Lösung mit der türkischen Regierung finden, werden alle verlieren.» Als im Juli der Putschversuch erfolgte, befand sie sich im Übrigen gerade bei Verwandten in der Türkei.
«Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir weiterhin mit der türkischen Regierung sprechen müssen. Doch gleichzeitig müssen wir sie davon überzeugen, dass ihr Vorgehen vollkommen falsch und inakzeptabel ist. Darüber hinaus ist diese Politik nicht im eigenen Interesse der Türkei, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Der Tourismus bricht so zusammen», betont Karl Vogler.
Zusammenarbeit aussetzen
Skeptisch ist dagegen der sozialdemokratische Nationalrat Carlo Sommaruga. «Was für ein Dialog? Von Seiten der türkischen Regierung gibt es keinerlei Willen für einen Dialog.» Laut Sommaruga hat die Schweizer Regierung nur ihrer Sorge Ausdruck verliehen. «Doch das reicht nicht. Sie muss die Freilassung aller HDP-Parlamentarier – lokaler und nationaler – verlangen; ausserdem die Rückkehr dieser Personen in ihre Ämter.
Schweiz – «Patin» der modernen Türkei
1923 fanden die ersten offiziellen Kontakte zwischen der Schweiz und der Republik Türkei statt, am Rande der Friedenskonferenz in Lausanne. 1925 schlossen die Schweiz und die Türkei einen Freundschaftsvertrag ab. Diplomatische Beziehungen wurden 1928 aufgenommen, als die Schweiz in Istanbul eine Gesandtschaft eröffnete. Diese diplomatische Vertretung wurde 1937 nach Ankara verlegt und 1957 zu einer Botschaft aufgewertet.
Im Jahr 1926 übernahm die Türkei das Zivilgesetzbuch und das Obligationenrecht der Schweiz praktisch ohne Änderung. Zudem wurden in der Schweiz zwei Staatsverträge unterzeichnet, die für die Türkei von grundlegender Bedeutung waren: der Friedensvertrag von Lausanne, der als Geburtsurkunde der modernen Türkei gilt, sowie der Vertrag von Montreux (1936), mit dem die Türkei die volle Souveränität über die Dardanellen und den Bosporus erlangte. Dadurch entstanden besonders enge Beziehungen zwischen den beiden Ländern.
(Quelle: EDA)
Zudem müssen alle Strafanzeigen gegen gewählte Politiker des sozial-demokratischen Partei CHP zurückgezogen werden sowie der Respekt für Menschenrechte und demokratische Rechte gewährleistet werden. Auch müssen die Gewaltentrennung und das Folterverbot eingehalten werden. Das müssen die Bedingungen für eine harmonische Weiterführung der bilateralen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sein.»
Gemäss Sommaruga «kann die Schweiz nicht tatenlos dem Erstarken eines autoritären Regimes zuschauen, das die Menschenrechte verletzt.» Der SP-Parlamentarier wird daher einen Vorstoss lancieren. Darin fordert er «die Zusammenarbeit der Schweiz mit der Türkei im Rechts- und Polizeiwesen solange auszusetzen, bis wieder Demokratie eingekehrt ist. Polizei und Justiz in der Türkei geben momentan keine rechtsstaatlichen Garantien mehr.»
Weg führt über Europarat
Gegen jegliche Interventionen dieser Art spricht sich hingegen Hannes Germann der von der rechtskonservativen SVP aus. Denn die Schweiz sei dem Prinzip der Neutralität verpflichtet. Der Ständerat ist überzeugt, dass man über den Europarat versuchen sollte, Ankara zu einer Kehrtwende zu bewegen.
Germann ist selbst Mitglied der Schweizer Delegation im Europarat. «Dieses Gremium stellt eine hervorragende Plattform dar, um sich in Sachen Rechtsstaat, Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreiheit auszutauschen.» Für diese Option spreche zudem die Tatsache, dass die Türkei die Zusammenarbeit mit dem Europarat akzeptiert hat.
Während die Sorge um den zunehmend autoritären Kurs Erdogans von allen Parlamentariern geteilt wird, gehen die Meinungen also auseinander, wie die Türkei dazu gebracht werden kann, wieder demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien anzuerkennen.
Wie soll die Schweizer Regierung gegenüber Erdogan auftreten? Schreiben Sie uns in den Kommentaren!
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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