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Ukrainer:innen in der Schweiz: Das sind die Lehren aus zwei Jahren Schutzstatus S

Demonstrierende vor dem Bundeshaus in der Bern mit einem Transparent, auf dem der Schutzstatus S für alle Flüchtenden gefordert wird.
Die Bürger:innenbewegung Campax forderte 2022 den Schutzstatus S für alle Flüchtenden. Er ermöglicht direkten Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt, aber nur auf dem Papier. Keystonoe

Vor zwei Jahren hat der Bundesrat den Schutzstatus S für Geflüchtete aus der Ukraine aktiviert – eine Première für die Schweiz. Doch bei der Integration in den Arbeitsmarkt hapert es. Warum das so ist und was die Schweiz tun kann.

«Die Anwendung des Schutzstatus SExterner Link war schlicht alternativlos», sagt Claudio Martelli, stellvertretender Direktor des Staatssekretariats für Migration (SEM) im Rückblick auf die letzten zwei Jahre in der Schweiz.

Dieser Status sei für grosse Fluchtbewegungen aufgrund akuter Kriegssituationen vorgesehen, damit das übrige Asylwesen nicht überlastet werde.

Denn: Wer den Schutzstatus S beantragt, durchläuft kein Asylverfahren, sondern wird vorübergehend aufgenommen, darf arbeiten und hat Anrecht auf Sozialhilfe. «Was Kantone, Gemeinden und Städte in der ersten Phase geleistet haben, ist sehr beeindruckend.»

Nur jede:r Fünfte hat Arbeit

Heute verfügen rund 66‘000 Personen über einen aktiven Schutzstatus S. Doch gerade bei der Erwerbstätigkeit sieht der Bundesrat Handlungsbedarf: Derzeit haben nur 20% der ukrainischen Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter eine Arbeit.

Dies, obwohl mehrere Branchen händeringend nach Arbeitskräften suchen, Fachkräftemangel herrscht – und ukrainische Geflüchtete oft über eine höhere Ausbildung verfügen. Der Bundesrat möchte die Zahl der Erwerbstätigen auf 40% verdoppeln; das verkündete er letzten November.

Schweizer Unternehmer suchen händeringend nach Fachkräften, wie unser Artikel zeigt:

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Woran es bei der Arbeitsmarktintegration hapere, damit befasste sich eine Fachkonferenz Mitte März in Bern, die durch den Nationalen Forschungsschwerpunkt «On the Move – Zwischen Migration und Mobilität»Externer Link sowie durch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Externer Linkorganisiert worden war.

Yelyzaveta Glynko und Peter Mozolevskyi, beide Geflüchtete aus der Ukraine, sehen mehrere Gründe für die tiefe Erwerbstätigkeit. Eine der Schwierigkeiten sei die fehlende Anerkennung von Diplomen und Fachtiteln.

Wer in der Ukraine als Psychiater arbeitete, kann nicht einfach eine Stelle als Psychiater in der Schweiz antreten – nebst der Anerkennung der Diplome sei oft auch die Sprache ein Hindernis.

«Niemand hat damit gerechnet, dass der Krieg so lange dauern würde», sagt Andrej Lushnycky, Honorarkonsul der Ukraine in der Schweiz. Ein Sprachkurs, eine Ausbildung oder eine berufliche Umorientierung schienen deshalb nicht unbedingt nötig.

Wie sehen andere Geflüchtete die Schweiz und ihre persönliche Situation? Wir haben mit drei Ukrainerinnen gesprochen:

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Die Firmen finden die Ukrainer:innen nicht – und umgekehrt

Sei man bereit, einer etwas anderen Tätigkeit nachzugehen, gebe es jedoch viele Arbeitsstellen, sagt Daniella Lützelschwab vom Schweizerischen Arbeitgeberverband. Die Herausforderung für die Arbeitgeber:innen: «Wir wissen nicht, wo diese Personen sind und wie wir sie finden.»

Gerade für KMU fehlten die nötigen Ressourcen, um Ukrainer:innen zu finden. «Dies müsste über die Branchen organisiert werden», sagt Lützelschwab.

Das gleiche Problem stellte Peter Mozolevskyi auch bei den Ukrainer:innen selbst fest: «Viele kennen die Möglichkeiten und Angebote in der Schweiz gar nicht. Die Kommunikation fehlt.»

Der Bund habe dieses Problem erkannt, sagt Philipp Berger, Chef der Abteilung Zulassung Arbeitsmarkt des SEM: «Wir arbeiten derzeit daran, Massnahmen vorschlagen zu können.»

Dabei gehe es sowohl ums Matching, also um das Zusammenbringen von Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in, als auch um die Kommunikation: «Das ist eine der lessons learned.» Man müsse andere Kanäle vermehrt in Betracht ziehen, etwa Social Media oder Berichte in ukrainischen Medien.

Parlament will Erwerbstätigkeit von Flüchtlingen fördern

Auch das Parlament möchte die Integration von Personen mit Status S in den Arbeitsmarkt verbessern. National- und Ständerat haben im März eine entsprechende Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats angenommenExterner Link.

Sie will die Arbeits-Bewilligungspflicht durch eine Meldepflicht ersetzen. Dies bringe mehr Flexibilität und wirke weniger abschreckend auf potenzielle Arbeitgeber:innen, weil nur noch ein Onlineformular ausgefüllt werden müsse.

Daniella Lützelschwab begrüsst jegliche administrative Erleichterung, bleibt aber skeptisch gegenüber dem Effekt. «Wir fordern vor allem Planbarkeit.»

Es sei schwierig, Arbeitnehmende einzustellen, wenn man nicht wisse, wie lange sie überhaupt in der Schweiz blieben – oder wie lange der Schutzstatus S noch gelte. Sie wünsche sich deshalb eine frühzeitige Kommunikation vom Bund.

Kurze Ausbildung, zum Beispiel in der Gastronomie

Der Kanton Waadt in der Westschweiz verzeichnet eine tiefere Erwerbstätigkeit bei Geflüchteten aus der Ukraine als der Deutschschweizer Durchschnitt: Nur 10% haben eine Arbeit. Deshalb habe man eine eigene Lösung entwickelt, sagt Isabelle Moret, Staatsrätin und Vorsteherin des Wirtschaftsdepartements.

Da Menschen aus der Ukraine – anders als andere Flüchtlinge – nicht den Rest ihres Lebens in der Schweiz verbringen wollten, setze man auf schnelle Ausbildungen von wenigen Wochen, die direkt in einen Job münden, sagt Moret.

Derzeit läuft etwa ein entsprechendes Pilotprojekt mit GastroVaud, um spezifische Arbeitskräfte für die Gastrobranche zu gewinnen. «Gerade in Branchen, die ohnehin einen hohen Turnus kennen, lohnt sich das», sagt Moret.

Honorarkonsul Andrej Lushnycky begrüsst diese Idee: Schnelle Lösungen seien wichtig, denn man müsse im Hinterkopf behalten, dass diese Personen eines Tages in die Ukraine zurückkehren.

„Eigentlich müssten 100 Prozent der Geflüchteten beschäftigt sein – aber nicht unbedingt als Arbeitskräfte“.

Isabel Moret, Staatsrätin im Kanton Waadt

«Eine leere Ukraine wäre ein grosses Problem. Für den Wiederaufbau des Landes ist es wichtig, dass die Leute zurückkommen.»

Idealerweise würden sich dadurch auch neue Möglichkeiten ergeben: Schweizer Unternehmen, die in der Ukraine den Wiederaufbau unterstützen und ukrainische Mitarbeitende, die ihr Unternehmen bereits kennen, später dort vor Ort einsetzen.

Und diese werde es brauchen: «Derzeit leben rund 6 Millionen Menschen in europäischen Staaten als Flüchtlinge – und fehlen in der Ukraine.»

Die Schweiz weiss nicht, was die Leute machen

Isabelle Moret bedauere es, dass der Bundesrat das Ziel von 40% Erwerbstätigen festgeschrieben habe. «Eigentlich müssten 100 Prozent der Geflüchteten beschäftigt sein – aber nicht unbedingt als Arbeitskräfte.»

Die Minderjährigen sollten in der Schule sein, die 18- bis 25-Jährigen in einer Diplomausbildung, und wer psychisch oder physische Leiden habe, solle in Behandlung sein, statt zu arbeiten.

Auch Sprachkurse seien wichtig; zudem gebe es Mütter, die sich um ihre Kinder kümmern müssten, da es in der Schweiz schwierig sei, Betreuungsmöglichkeiten zu finden.

«Im Kanton Waadt gibt es 3600 Personen aus der Ukraine, die zwischen 18 und 65 Jahre alt sind. Darunter hat es 2000 Personen, von denen wir nicht wissen, was sie machen», sagt Moret.

Sie seien nicht beim RAV eingeschrieben und hätten auch keine Arbeitsbewilligung beantragt. «Vielleicht arbeiten sie von hier aus für eine ukrainische Firma oder besuchen einen Kurs, ohne über die offiziellen Wege zu gehen», sagt Moret.

Um Klarheit zu haben, würden diese 2000 Personen aufgefordert, sich beim Kanton zu melden. «Um den Menschen individuell zu helfen und sie zu fördern, müssen wir zuerst wissen, was der Stand der Dinge ist.»

Wer der Aufforderung, sich zu melden, nicht nachkomme, müsse eine Busse bezahlen, so Moret. Dies nicht, weil man sie zur Arbeit verpflichten wolle, sondern um die Situation besser zu verstehen.

Eine Gruppe evaluiert den Flüchtlingsstatus S

Die Erfahrungen mit dem Schutzstatus S könnten auch für andere Flüchtlingsgruppen interessant sein, so Moret. Das sieht auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR so. So begrüssenswert die schnelle Hilfe sei: Der Schutzstatus S schaffe auch Unterschiede zwischen Geflüchteten.

Ein Schutzstatus S für alle Flüchtlinge sei nicht erstrebenswert, sagt Anja Klug, Leiterin des Schweizer Büros des UNHCR. Es gehe darum, über die Rechte aller Flüchtlinge zu sprechen – insbesondere der vorläufig Aufgenommenen, die weniger Rechte haben als anerkannte Flüchtlinge.

Was ist der Schutzstatus S? Wir erklären es kurz und knapp in diesem Video:

Welche Lehren man aus der Anwendung des Schutzstatus S ziehen kann, untersucht derzeit eine vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) eingesetzte Evaluationsgruppe.

«Diese wird Mitte Jahr einen Bericht vorlegen, in welchem die verschiedenen Status im Asylwesen einander gegenübergestellt und kontextualisiert werden», sagt Claudio Martelli vom SEM.

Er wirft ein: Mit den Erfahrungen des Status S nun sämtliche Widersprüche und Fehlentwicklungen der Schweizer Asylgesetzgebung lösen zu wollen, sei illusorisch.

«Es hat in der Vergangenheit aber bereits mehrere Anpassungen gegeben. Wir haben einen Schritt nach vorne gemacht.»

Editiert von Marc Leutenegger

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