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Uno: Die Schweiz fordert Rechte «à la carte»

Das Recht auf Nahrung darf nicht ein frommer Wunsch bleiben.

Die Schweiz bringt am Uno-Sitz in Genf eine umstrittene Forderung ein: Die Mitgliedsstaaten sollen selbst entscheiden können, welche Rechte die Bürger bei der Uno einfordern können.

Experten, Diplomaten und NGOs sind schockiert. Auch die beiden Schweizer Hilfswerke Fastenopfer und Brot für alle kritisieren die Haltung der Schweizer Regierung.

Gemäss der Schweizer Verfassung hat jeder Mensch Anrecht auf Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Theoretisch kann also in der Schweiz jede Person rechtlich dagegen vorgehen, falls ihr diese Grundrechte verweigert werden. Das gilt auch für illegal Eingewanderte.

Dieser Grundsatz ist auch im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen verankert. Er stellt zusammen mit dem Pakt über zivile und politische Rechte eine der Säulen der universellen Menschenrechtserklärung dar.

Damit die Einforderung der Grundrechte nicht Theorie bleibt, wurde diese Woche am Uno-Sitz in Genf einmal mehr über das so genannte Individualbeschwerdeverfahren diskutiert. Ein Beschwerdeverfahren, das jedem Menschen ermöglichen soll, bei der Uno sein Recht einzufordern. Durch die Verankerung eines solchen Verfahrens in einem Fakultativprotokoll soll die Durchsetzung des Uno-Pakts gestärkt werden. Das Fakultativprotokoll wurde von einer Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrats erarbeitet.

Gemäss diesem Protokoll könnte beispielsweise ein Bauer, der von der Regierung unrechtmässig von seinem Land vertrieben wurde, diese beim Uno-Menschenrechtsrat anklagen.

Rechte ausschliessen

Das Fakultativprogramm geht jedoch der Schweiz einen Schritt zu weit: Sie schlägt ein Protokoll vor, das den Vertragsstaaten erlaubt, gewisse universelle Rechte auszuschliessen. Eine Art Protokoll «à la carte», also.

Experten, Diplomaten und NGOs sind von dieser Forderung schockiert. In ihrer jährlichen Kampagne zum Recht auf Nahrung kritisieren die beiden Hilfswerke Fastenopfer und Brot für alle die ambivalente Haltung der Schweizer Regierung.

«Die Schweiz nimmt in der Verteidigung des Rechts auf Nahrung eine Pionierrolle ein. Die Schweizer Regierung hat im Menschenrechtsrat viel zur Erarbeitung dieses Rechts beigetragen», sagt Chantal Peyer von Brot für alle.

Zudem sei der Schweizer Soziologe Jean Ziegler seit sieben Jahren Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. «Die Haltung der Schweizer Behörden ist inkohärent», so Peyer.

Verbesserungsbedarf

Eine Tatsache ist: In der Schweiz scheint es in Sachen Gesundheit und Unterkunft Verbesserungsbedarf zu geben. Gemäss Christophe Golay, dem Berater von Jean Ziegler, lässt insbesondere das revidierte Krankenkassengesetz zu wünschen übrig.

So seien heute die Krankenkassen nicht mehr verpflichtet, Leistungen zu erbringen, wenn jemand die Beiträge nicht bezahlen könne. «Diese Regelung hat zu zahlreichen Behandlungsunterbrüchen geführt», sagt Golay.

«Das ist eine gravierende Verletzung des Rechts auf Gesundheit – doch die Betroffenen haben keine Möglichkeiten dagegen zu klagen», so Golay. Für ihn ist klar: Die Schweizer Regierung wolle das Uno-Protokoll nicht unterschreiben, weil dies Gesetzesänderungen zur Folge hätte.

«Hierarchiesierung der Menschenrechte»

Während Kanada und die USA die Haltung der Schweiz teilen, haben europäische Länder wie Deutschland, Italien, Portugal, Finnland und Spanien eine andere Sicht der Dinge.

«Würden die einzelnen Länder selbst darüber entscheiden, welche Rechte bei der Uno eingefordert werden können, käme dies einer Hierarchisierung der Rechte gleich. Das widerspricht dem Grundsatz der Universalität», sagt Gregor Schottin, Menschenrechtsbeauftragter beim auswärtigen Amt in Berlin.

Christoph Spenlé, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Eidgenössischen Departement für äuswärtige Angelegenheiten (EDA), Sektion Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht, ist anderer Meinung: «Bevor wir ein neues Instrument ratifizieren, wollen wir abklären, ob es mit unserer Verfassung und unserem juristischen System kompatibel ist.»

Die Schweiz würde die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Internationalen Pakts anerkennen. «Als Teilnehmerstaat müssen wir alles tun, um diese umzusetzen», sagt Spenlé. «Dafür braucht es die gesetzliche Intervention sowie einen politischen Willen. Das Protokoll wird die Umsetzung dieser Rechte nicht beschleunigen», so Spenlé.

Angst und Geld

«Das ist eine Umkehrung der Werte», sagt Golay. «Wo kämen wir hin, wenn sich die Teilnehmerstaaten bei den Vertragsverhandlungen jeweils zuerst mit der Gesetzeskonformität befassen würden.»

An der Konferenz von Wien hätten die Mitgliedsstaaten 1993 beschlossen, dass alle Menschenrechte gleichwertig zu behandeln seien. «Es ist daher undenkbar, dass die Schweiz Menschenrechte unterschiedlich behandelt, so Golay.

Weshalb übt die Schweiz gegenüber dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt, das den Menschen ermöglichen soll, ihre Rechte einzufordern, eine solche Zurückhaltung? Weshalb ist sie nicht wie die meisten Mitgliedsstaaten gegen eine Hierarchisierung der Rechte?

Gemäss einem afrikanischen Diplomaten hat dies mit Angst und Geld zu tun.
«Manche Länder haben Angst vor den Folgen eines solchen Abkommens. Sie haben Angst, dass jeder Arbeiter – ob illegal oder legal – sein Recht auf Unterkunft und medizinische Versorgung einfordern könnte», sagt der Diplomat.

Das Protokoll enthalte zudem eine Klausel, die die Unterzeichnerstaaten zur internationalen Zusammenarbeit verpflichte. «Das kann reichen Ländern sehr teuer zu stehen kommen.»

swissinfo, Carole Vann/Tribune des Droits de l’homme
(Übersetzung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

Das erste Uno-Menschenrechtsabkommen, welches die Schweiz unterzeichnete war die Antifolterkonvention (1986).

Erst nach dem Ende des Kalten Krieges trat die Schweiz auch den anderen Abkommen bei. 1992 traten Pakt I (Bürgerrechte) und Pakt II (Sozialrechte) in Kraft.

Da die Schweiz eine strenge Ratifikationspraxis hat, tritt sie einem internationalen Abkommen erst bei, wenn sie die nationalen Gesetze angepasst hat.

Erst als das Volk 1994 das Schweizerische Antirassismusgesetz annahm, tritt die Schweiz der Antirassismuskonvention bei.

Bei der Kinderrechtskonvention, welche in der Schweiz 1997 in Kraft trat, musste aufgrund des Drucks konservativer Kreise ein Vorbehalt formuliert werden, der der elterlichen Sorge den Vorrang einräumt.

Im gleichen Jahr trat die Schweiz auch der Frauenrechtskonvention bei. 1999 ratifizierte die Schweiz der Genozidkonvention, die 2000 in Kraft trat.

Der Wanderarbeiterkonvention von 1990 ist die Schweiz wie viele andere Industrienationen noch nicht beigetreten.

(Quelle: Amnesty International)

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