Unüblich scharfer Schweizer Wahlkampf
Die Schweizer Regierungsparteien gehen im Wahlkampf unzimperlich miteinander um. Weil sie Wählende mobilisieren wollen, üben sie sich vor den Wahlen im politischen Spagat.
Warum im Kampf um die Sitze im Parlament der Ton härter geworden und das Niveau gesunken ist, erklärt der Politologe Wolf Linder im Interview mit swissinfo.
swissinfo: Was zeichnet den diesjährigen Wahlkampf aus?
Wolf Linder: Zunächst fällt die grössere Polarisierung zwischen links und rechts auf. Diese ist als solche nichts Nachteiliges.
Aber in der Polarisierung liegt doch auch ein Stilwandel des Wahlkampfes.
swissinfo: Wie hat sich der Stil im Wahlkampf im Vergleich zu früher verändert?
W.L.: Er ist härter geworden, aber auch ruppiger. Ich denke etwa, dass die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit Plakaten, mit den Schäfchen, wo die schwarzen Schafe rausgeworfen werden aus der Schweiz, den Limit überschritten hat.
Ähnlich wie die Sozialdemokratische Partei (SP) mit einem Plakat über den Flugzeugcrash in ein Kernkraftwerk. Das sind Dinge, die gegenüber dem politischen Stil von früher deutlich die Limiten überschreiten.
swissinfo: Warum hat sich der Stil in diese Richtung verändert?
W.L.: Das hat verschiedene Gründe. Die SVP gilt als Partei, die nicht nur politische Tabus aufgreift, sondern auch generell einen Politikstil praktiziert, der die Konfrontation sucht.
Bei der SVP kommt natürlich dazu, dass sie ständig jene Institutionen ein Stück weit auch lächerlich macht, in denen sie die grösste Macht beansprucht. Das sind Elemente eines politischen Populismus.
swissinfo: Im Gegensatz zu den USA oder Frankreich müssen jene Personen, die sich im Wahlkampf anfeinden, in der Konkordanz dann wieder zusammen arbeiten. Wie gehen Politiker mit diesem Spagat um?
W.L.: In der Tat sind die Parteien im politischen Spagat. Sie sind gleichzeitig Regierungsparteien und wollen aber auch ihre Wählerschaft vermehrt ansprechen und mobilisieren.
Das lösen die Parteien im Zeitablauf: In der Wahlkampfzeit wird die Konkordanz nicht erst seit heute ins Hinterzimmer verwiesen und jeder schaut für sich. Nach den Wahlen rauft man sich dann wieder zusammen.
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Konkordanz
swissinfo: Die Schweizerische Volkspartei (SVP) dominiert den Wahlkampf. Warum kann ihr dort niemand die Führerschaft streitig machen?
W.L.: Die SVP bringt einen scharfen Wahlkampf und will sich mit Polarisierung profilieren. Ein Stück weit kann dies die SP auch.
Die Parteien der Mitte dagegen können aus der Polarisierung keine Vorteile gewinnen und hoffen eher auf die politische Vernunft der Wählerschaft. Da passt es nicht, wenn man allzu aggressiven und teils unglaubwürdigen Forderungen nachgeht.
Für die Zukunft ist denn auch zu fragen, ob die Stimmbürger diese dauernde Polarisierung goutieren oder nicht. Die Antwort werden wir erst Ende Oktober erhalten.
swissinfo: Im Wahlkampf wird auf eher tiefem Niveau scharf aufeinander geschossen. Fehlen den Parteien die Inhalte?
W.L.: Gehen wir auf die nationale Ebene, dann ist es in der Tat so, dass oberflächliche Auseinandersetzungen dominieren. Zwar gibt es einzelne Politiker, die durchaus interessante Themen aufbringen. Aber ich wundere mich, dass aktuelle und wichtige Themen ausgelassen werden.
Als Beispiel: Das Berner Seeland stand viermal unter Wasser, aber der Klimawandel beschäftigt offenbar nur die Grünen. Kaum Argumente und Gegenargumente zu wichtigen Fragen der nationalen Politik: Jeder bringt seine Themen und keiner antwortet darauf.
Wenn wir aber in die Kantone gehen, dann sehen wir häufig interessante Auseinandersetzungen, z.B. über Schulen, über Verkehrsfragen oder die Ausländerintegration.
Dass der Wahlkampf mit kantonalen Themen bestritten wird, halte ich nicht für zufällig. Denn die Wahlen in die eidgenössischen Räte sind eigentlich gleichzeitig stattfindende kantonale Wahlen ins nationale Parlament.
swissinfo: Ist der Wahlkampf im digitalen Zeitalter angekommen?
W.L.: Das finde ich etwas vom Interessantesten: Das Internet-Zeitalter hat den Wahlkampf erreicht. Was wir sehen, sind nicht nur Websites der Parteien, der Kandidaten, sondern auch Zeitungen, die interessante Blogs und Diskussionsforen eröffnen.
Oder etwa «Smartvote», eine private Initiative, die aufzeigt, wie sich die Kandidatinnen und Kandidaten zu einzelnen politischen Fragen äussern. So können sich Wählende individuell jene Kandidaten aussuchen, die am ehesten ihren eigenen Wünschen entsprechen.
swissinfo: Was erwarten Sie von den Parlamentswahlen?
W.L.: Für mich steht die Frage dahinter: Goutieren Wählerinnen und Wähler die Polarisierung der letzten zehn Jahre oder haben sie genug davon?
Wollen sie weiterhin die Polarisierung, dann wird die SVP sicher nicht schlechter dastehen als vor vier Jahren. Auch die SP wird sich in etwa halten können. Die Mitte wird erodieren, vielleicht auf Kosten der Grünen.
Ist aber langsam eine Sättigung erreicht und möchte die Wählerschaft weniger Polarisierung, dann werden die Parteien der Mitte gestärkt aus den Wahlen hervorgehen.
swissinfo: Noch nie haben so viele Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer für einen Sitz kandidiert. Besteht die reale Chance, dass erstmals jemand aus ihren Reihen gewählt wird?
W.L.: Das könnte der Fall sein. Ich denke allerdings, dass dies allerhöchstens in einem grossen Kanton wie Zürich reichen dürfte.
Denn Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sind zwar eine wichtige Stimme, zahlenmässig fallen sie aber doch in den meisten Kantonen zuwenig ins Gewicht, um in der Proportionalwahl bestehen zu können.
swissinfo-Interview: Christian Raaflaub
Am 21. Oktober wählt das Schweizer Stimmvolk im In- und Ausland den Nationalrat (200 Sitze) und praktisch den gesamten Ständerat (43 von 46 Sitzen) neu. Nur die Kantone Zug und Appenzell Innerrhoden haben ihre Ständeratswahl vorgezogen.
Die Stimmberechtigten können nur Kandidierenden die Stimme geben, die in ihrem Wohnkanton zur Wahl stehen. Auch Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wählen in jenem Kanton, in welchem sie im Wahlregister eingetragen sind. Dieses Jahr kandidieren 44 von ihnen für den Nationalrat. Insgesamt sind es 3089 Personen.
Den Wahlen kommt auch im Hinblick auf die Machtaufteilung in der Landesregierung (Bundesrat) eine grosse Bedeutung zu. Das neue Parlament wird als eine der ersten Handlungen gleich den gesamten Bundesrat bestätigen oder aber neu zusammenstellen können.
Letzte Wahlumfrage von gfs.bern im Auftrag der SRG SSR idée suisse (in Klammern Wahlen 2003):
Schweizerische Volkspartei (SVP): 25,6% (26,7%)
Sozialdemokratische Partei (SP): 22,6% (23,3%)
Christlich-demokratische Partei (CVP): 15,0% (14,4)
Freisinnig-Demokratische Partei (FDP): 14,7% (17,3%)
Grüne Partei: 10,7% (7,4%)
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