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Veränderte Konflikte geben Polarisierung Aufwind

Manchmal fliegen die Fetzen nicht nur auf der politischen Bühne, sondern auch am Stammtisch. RDB

Isolationistische Traditionen oder soziale und politische Integration: Darauf kommt es laut einer Studie immer mehr an, ob eine politische Partei unterstützt wird oder nicht. Das erklärt die zunehmende Polarisierung des politischen Klimas in der Schweiz.

Das neue Muster scheint den üblichen Konflikt zu verdrängen, der Wähler früher in Anhänger von mehr sozialer Gleichheit und einem starken Staat und solche dagegen aufspaltete.

Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die auf Recherchen über die letzten Parlamentswahlen in der Schweiz von 2007 basiert.

Georg Lutz, Politologe und Mitherausgeber der Studie, sagt, die Trends in der Schweiz richteten sich gegen den Hintergrund der Globalisierung und seien dieselben wie in anderen europäischen Ländern.

«Die Globalisierung hat in der Schweiz Ängste ausgelöst, und gewisse Leute haben Defensiv-Strategien gegen den empfundenen Werteverlust entwickelt», so Lutz gegenüber swissinfo.ch.

Ähnliche Reaktionen zeigten sich in anderen Ländern, wo rechtspopulistische Parteien an Terrain gewonnen haben.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) war eine der Gewinnerinnen der Parlamentswahlen von 2007 und tut alles, um die politische Agenda zu bestimmen, damit sie 2011 erneut gewinnt.

Lutz betont, die Studie zeige, dass die SVP ihr Wählerpotenzial äusserst effizient ausgenützt habe. «Die SVP nutzte 2007 ihre Ressourcen weit besser als andere Parteien und bewies ihren guten politischen Instinkt.»

Identität und Wirtschaft

Die SVP findet sehr grosse Unterstützung bei Arbeitern und Angestellten im Produktions- und Dienstleistungssektor sowie auch bei Kleinunternehmern. Das ist bis zu einem grossen Teil die frühere Wählerbasis der Mitte-Links-Sozialdemokraten.

Die Autoren der Studie erklären, es sei verwirrend zu sehen, dass weniger wohlhabende Schichten die Volkspartei wählten, jene Partei, die am vehementesten gegen soziale Sicherheit und Umverteilung politisiere.

Dies sei aber erklärbar durch die Gewichtsveränderung verschiedener politischer Konflikte, die in den frühen 1990er-Jahren erstmals sichtbar geworden sei.

«Es sind nicht so sehr Wirtschaft und Umverteilung, welche die Wählerinnen und Wähler spalten, sondern Identitätsfragen wie internationale Integration und Multikulturalismus», sagt Lutz.

Pascal Sciarini, Politologe an der Universität Genf, fügt gegenüber swissinfo.ch bei, dass viele Feststellungen der Studie nicht total neu seien. Aber sie würden den wissenschaftlichen Beweis liefern zu dem, was häufig wahrgenommen worden sei.

Bewegungen und Potenziale

Die Studie kommt zum Schluss, dass die Wahlen von 2007 geprägt waren von einem vertieften Graben sowie einem Trend in Richtung starker politischer Spaltungen und zentralisierteren Parteien – was seine Wurzeln darin hat, dass es in der Schweiz 26 Kantone gibt.

Die traditionellen Identitäten der Parteien sind in den letzten wenigen Jahrzehnten in Bewegung geraten – und damit auch das langjährige System der Konkordanz, der Machtteilung.

Die laufenden Diskussionen über die sogenannte Zauberformel zur Aufteilung von Regierungssitzen – das Gentlemen’s Agreement zwischen den vier grössten Parteien zwischen1959 bis 2003 – seien die logische Folge davon, so Lutz.

Trotz allem wird man noch sehen müssen, in welchem Ausmass die Wahlen 2011 von Fragen der kulturellen Identität oder wirtschaftlichen Themen geprägt sein werden und wer am meisten davon profitieren kann: die rechte Volkspartei oder die linke Mitte, inklusive die Grünen.

Die Grünen seien übrigens jene Partei, die ein eindrückliches Wachstumspotenzial habe, sagen die Autoren der Studie. Allerdings haben die Grünen ihr Potenzial nicht angemessen ausnützen können, weil sie das Mitte-Spektrum mit den Sozialdemokraten teilen müssen, die eine ähnliche, jedoch ältere Wählerschaft anziehen.

Mitte-Spektrum

Was die Mitte-Rechts-Parteien betrifft, scheinen sich diese in dem neuen Muster nicht sehr komfortabel zu fühlen. Sie besetzen ein Mitte-Spektrum zwischen Traditionalismus und politischer Offenheit sowie sogar zwischen scheinbar widersprüchlichen Werten wie Marktliberalismus und Staatsintervention.

Die Studie belegt auch, dass die Wählerschaft sowie die Elite von Mitte-Rechts-Parteien – den Freisinnigen und den Christlichdemokraten – zu mehr Homogenität tendieren als jene der Volkspartei oder der Sozialdemokraten.

Nicht berücksichtigt hat die Studie einen wachsenden Trend in den letzten zwei Jahren zu einer Aufsplitterung von Mitte-Rechts. Kleinere Gruppierungen in diesem politischen Segment, namentlich die Grünliberalen, haben ein beachtliches Potenzial erreicht, wie eine neuliche Studie des Forschungsinstituts gfs.bern zeigt.

Das Schweizer Parlament, bestehend aus dem Nationalrat, der grossen Kammer, und dem Ständerat, der kleinen Kammer, zählt 246 Sitze und ist für vier Jahre gewählt.

Die derzeitige Legislaturperiode geht im November 2011 zu Ende.

Mindestens 12 politische Parteien vertreten das politische Spektrum, von der Eidgenössischen Demokratischen Union bis zur Kommunistischen Partei.

Die fünf grössten Parteien sind die Schweizerische Volkspartei (SVP), die Sozialdemokratische Partei (SP), die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen), die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) und die Grüne Partei.

Die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) und die Grünliberalen (GLP) sind moderate Abspaltungen von der SVP bzw. den Grünen.

Die Studie basiert auf fast 4400 Interviews mit Wählerinnen und Wählern nach den Parlamentswahlen 2007.

Die Auroren der Studie befragten alle 3181 Wahlkandidatinnen und -kandidaten.

Mehr als die Hälfte von ihnen beteiligte sich an der Studie.

Selects ist ein gemeinsames Projekt mehrerer Schweizer Universitäten und der Bundesverwaltung.

Finanziert wird es vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

Selects wurde 1995 gegründet und beteiligt sich auch an vergleichbaren internationalen Netzwerken.

(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

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