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Verschwindet die Schweizer Konsensdemokratie?

Konsens? Ein immer rareres Gut in der Schweiz. swissinfo.ch

Die Diskussionen im Vorfeld der Abstimmung über die Ausschaffung krimineller Ausländer wurden häufig emotional und konfrontativ geführt. Laut dem Kommunikationsexperten Linards Udris ist dies ein Beispiel dafür, wie die schweizerische Tradition der Konsenspolitik durch Opposition abgelöst wird.

Konsens bedeutet in der Schweiz, dass politische Parteien und verschiedene gesellschaftliche Gruppen sich die Hand reichen und rationale, vertiefte Debatten führen, die in einen Kompromiss münden. Seit der Staatsgründung 1848 sei dies ein wichtiger Grundsatz des politischen Lebens in der Schweiz gewesen, sagt Udris. So hätten die Leute auch während schwierigen Phasen zusammenhalten können.

Aber in den letzten 20 Jahren ist laut Udris das Konzept der Konsensdemokratie schwächer geworden; stattdessen sei die Polarisierung in den Vordergrund gerückt. Die Durchsetzungs-Initiative zur Ausschaffung krimineller Ausländer wurde am 28. Februar von 58,9 Prozent der Schweizer Stimmenden abgelehnt. Bei früheren Umfragen hatten die Befürworter jedoch noch vorne gelegen. Die Urheberin der Initiative, die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), hatte scharfe Worte und auffällige Plakate benutzt, um ihre Botschaft rüberzubringen.

swissinfo.ch: Konsensorientierung war also immer schon Teil der demokratischen Entscheidfindung in der Schweiz?

Linards Udris: Ja, genau. Und die Schweiz ist in dieser Hinsicht kein Spezialfall: Es gibt viele europäische Länder, besonders kleine Staaten wie beispielsweise die Niederlande und skandinavische Länder, wo die Konsensorientierung zwischen den verschiedenen Parteien und Gruppen immer sehr wichtig war. Dies ist also nicht eine ausschliesslich schweizerische Eigenschaft. Einzigartig ist hingegen die Geschwindigkeit, mit welcher der Trend in der Schweiz Richtung Polarisierung geht.

Ich glaube, dass diese Tendenz auch ein Ergebnis des schnellen Medienwandels in der Schweiz ist. Das schweizerische Mediensystem war einmal sehr gut. Nach internationalen Massstäben ist es immer noch gut, aber die Medien haben sich in den letzten zehn bis zwanzig Jahren verdichtet und boulevardisiert. Damit meine ich, dass die Medien mit schlechteren Dienstleistungen bedeutender wurden, während hochqualitative Medien an Wichtigkeit verloren.

swissinfo.ch: Der Vormarsch der Schweizerischen Volkspartei ist doch sicherlich auch ein Faktor.

L.U.: Das ist ein extrem wichtiger Faktor, wenn nicht der Hauptgrund. Das schweizerische Parteiensystem ist oppositioneller geworden. Es ist aber keine klassische Rechts-Links-Aufteilung, wo die Linken mehr und die Rechten weniger staatliche Einmischung fordern. Es ist eher ein Konflikt der radikal populistischen Rechten, die sich hochstilisiert als alleinstehende Partei, die gegen alle anderen kämpft – gegen das System, die politische Elite und «alle anderen».

Um zum Medieneinfluss zurückzukommen: In unseren Studien haben wir herausgefunden, dass die SVP am meisten Medienaufmerksamkeit erhält. Man könnte das sogar übertriebenes Medieninteresse nennen, weil es in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Vertretung der Partei im Parlament steht.

swissinfo.ch: Ist das, weil sie sozusagen am lautesten schreien?

L.U.: Ja, das kann man so sagen. Die SVP polarisiert und provoziert mit ihrer Rhetorik und ihrem Kommunikationsstil am meisten. Die Parteivertreter sind sich bewusst, dass sie mit provokativen Plakaten und Losungen bei den Medien, der Regierung und den anderen Parteien Reaktionen auslösen und Kritik ernten. Aber das ist es, was sie wollen. Damit bewahrt die SVP ihr Image jener Partei, die gegen alle anderen kämpft.

Linards Udris

Udris ist stellvertretender Leiter des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Politische Kommunikation, sozialer Wandel, Qualität der Medien und Öffentlichkeitssoziologie.

swissinfo.ch: Ist die Durchsetzungs-Initiative ein gutes Beispiel für eine Situation, in der wir keinen Konsens sondern gegensätzliche Meinungen hatten?

L.U.: Es war eine sehr emotionale Debatte, die das Image der SVP als Alleinkämpferin wieder einmal bekräftigt hat. Persönlich bin ich der Meinung, dass das Resultat die Partei zwar kurzfristig schmerzt, weil sie verloren hat. Mittel- bis langfristig wird die Initiative der Partei aber wieder helfen.

Vergessen wir nicht, dass die Partei trotz der Niederlage bei der Initiative mehr Ja-Stimmen erhalten als sie eigentliche Wähler hat [Bei den Parlamentswahlen erreichte die SVP 29,4 Prozent]. Über 40 Prozent der Stimmenden haben die Initiative angenommen, also hilft sie der Partei und deren Image trotzdem.

swissinfo.ch: Der Chefstratege der SVP, Christoph Blocher, hat nach der Abstimmung einige interessante Aussagen gemacht: Die Partei solle mit ihrer Flut von Volksinitiativen aufhören und sich stattdessen auf ihre beiden Bundesräte in der Regierung besinnen. Das scheint fast ein Schritt Richtung Konsens zu sein.

L.U.: Ich fand das auch sehr überraschend. Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Dinge wirklich so entwickeln werden oder ob es nicht vielmehr ein kurzfristiges Ablenkungsmanöver ist. Aber wenn die Aussage als ernsthafter Vorschlag gemeint war, dann wäre es tatsächlich ein Schritt in Richtung Konsens.

In der Regel haben die Parteien und gesellschaftlichen Gruppen in der Schweizer Geschichte immer einen Kompromiss gefunden. Das ist Teil der politischen Kultur, so wie sie früher war. Man kann daher annehmen, dass sich die Parteien weiterhin zusammenraufen und Kompromisse schliessen werden.

swissinfo.ch: Wird die Zukunft mehr Opposition bringen?

L.U.: Es ist immer schwierig, Voraussagen zu machen. Das Ausmass an Polarisierung wird sich nicht so schnell beschleunigen wie in den letzten Jahren, denn es hat bereits einen bestimmten Grad erreicht. Aber ich denke nicht, dass sich der Trend grundlegend ändern wird. Und ich denke nicht, dass sich die Medien verbessern werden. Polarisierung wird also in den nächsten Jahren – wenn nicht Jahrzehnten – ein Phänomen bleiben.

(Übertragen aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi)

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