Vier Jahrzehnte Emigration aus dem Kosovo
Heute machen junge Kosovoalbaner Schlagzeilen als Raser und Schläger. Ihre Grossväter, die in den 1960er-Jahren in die Schweiz kamen, waren dagegen als ruhige und eifrige Schaffer beliebt. Davon erzählt ein Buch über die albanische Arbeits- und Asylmigration.
Der Ethnologe Hans-Peter von Aarburg hat zusammen mit der Sprachwissenschafterin Sarah Barbara Gretler ein Buch verfasst, in dem Migranten aus vier Jahrzehnten selbst zu Wort kommen: «Die albanische Arbeits- und Asylmigration zwischen Kosovo und der Schweiz».
Lebensgeschichten von Angehörigen unterschiedlicher Generationen und beider Geschlechter stehen darin zwischen zeitgeschichtlichen Hintergrund-Informationen.
Die ersten Einwanderer aus dem Kosovo seien so diskret gewesen, dass sie kaum wahrgenommen worden seien. Sie seien sozusagen unsichtbar gewesen, sagt von Aarburg im Gespräch mit swissinfo.
swissinfo: Waren die Kosovoalbaner früher besser integriert als heute?
Hans-Peter von Aarburg: Die ersten Kosovoalbaner, die Mitte der sechziger Jahre in die Schweiz kamen, waren Saisonniers, Männer aus einer vormodern-ländlichen Welt. Sie wollten ursprünglich nur ein paar Monate «draussen» etwas Bargeld verdienen und dieses in ihre Heimat zurückbringen.
Allerdings reihte sich bei vielen dieser Gastarbeiter eine Saison an die andere, oft ein halbes Leben lang. Mit dem zurückgebrachten Geld verbesserten sie die Lebensbedingungen ihrer in der Heimat zurückgebliebenen Familienangehörigen. Bei den Arbeitgebern waren die kosovarischen Saisonniers beliebt. Sie galten als belastbar und einsatzfreudig.
Der Arbeitsaufenthalt der kosovarischen Männer wurde von beiden Seiten als vorläufig betrachtet, Familiennachzug wurde meist weder geplant noch vollzogen. Ihre Integration in den hiesigen Alltag war von der Schweiz ebenso wenig gewünscht wie von den Saisonniers selbst.
swissinfo: Hat diese Nicht-Integration zu Konflikten geführt?
H.-P.v.A.: Bis in die achtziger Jahre gab es kaum Konflikte. Die kosovarischen Männer lebten hier in der Schweiz meist zurückgezogen unter sich und äusserst bescheiden. Die meisten von ihnen hatten Frau und Kinder zuhause im Kosovo.
Das System der albanischen Grossfamilie ermöglichte dies, lebten doch die Familien von Brüdern damals noch meist in einem einzigen ländlichen Grosshaushalt. Die Schwierigkeiten haben erst in den neunziger Jahren mit dem Familiennachzug angefangen.
swissinfo: Welche Rolle spielten traditionelle patriarchale Hierarchien?
H.-P.v.A.: Die grössten Probleme ergaben sich nicht aus kulturellen Prägungen durch das Herkunftsland, sondern aus ökonomischen Lebensbedingungen hier in der Schweiz. Das Geld reichte plötzlich nirgends mehr hin. Mit einem Hilfsarbeiterlohn kann man in der Schweiz eine grosse Familie nur mit Mühe angemessen durchbringen.
Die Stellung der kosovarischen Familienväter wurde durch diese Situation schlagartig untergraben. Einst galten sie als Wohltäter, die dank vieler Entbehrungen ihren Familien zu Hause einen stets steigenden Lebensstandard garantierten. Nun aber konnten sie ihre nachgezogenen Familien kaum mehr auf einem bescheidenen Standard über die Runden bringen.
swissinfo: Wie hat sich dies auf die Jugend ausgewirkt?
H.-P.v.A.: Kinder und Jugendliche waren meist völlig unvorbereitet von einem Tag auf den anderen in die Schweiz gekommen. Sie verstanden die Sprache nicht und gerieten aufgrund von Sprachschwierigkeiten oft in Klassen mit geringen Anforderungen und wenig Chancen für aussichtsreiche Weiterbildungen. Viele Jugendliche verpassten so den Anschluss an die Gesellschaft.
swissinfo: Woher kommt die Gewaltbereitschaft vieler junger Kosovoalbaner heute?
H.-P.v.A.: Äusserst belastende Lebensumstände hatten viele Heranwachsende in frustrierende soziale Sackgassen geführt. Allzu vielen fehlen heute Perspektiven auf ein sozial befriedigendes Dasein. Daraus resultierende alltägliche Kränkungen führen insbesondere bei jungen Männern leicht zu Aggressionen.
Diese Raser-Geschichten: Es gibt dieses unentschuldigbare Verhalten, das mit aller Härte von Polizei und Justiz individuell verfolgt und geahndet werden muss. Gleichzeitig sollte das Problem solcher aggressiver junger Männer aber auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen angegangen werden.
swissinfo-Interview: Susanne Schanda
Das Buch: Hans-Peter von Aarburg und Sarah Barbara Gretler: «Schweiz – Kosova. Die albanische Arbeits- und Asylmigration zwischen Kosovo und der Schweiz (1964-2000)». Lit-Verlag, Wien, Zürich, Berlin, 595 Seiten.
In der Schweiz leben zwischen 170’000 und 190’000 Kosovarinnen und Kosovaren. Das entspricht rund 10% der Bevölkerungszahl im Kosovo.
2001 hat die Schweiz zum ersten Mal Subventionen zur Förderung der Integration bewilligt.
Der erste dieser Kredite belief sich auf 10 Mio. Franken. Für die Periode 2004-2007 wurde der Betrag dieser Subvention auf 14 Mio. Franken erhöht.
Die Bundessubventionen decken etwa 45% der Kosten, welche die Projekte verursachen. Der Rest wird von den Kantonen und Gemeinden übernommen.
Das Bundesamt für Migration finanziert die Projekte zur Integrations-Förderung aufgrund der Empfehlungen der Eidgenössischen Ausländerkommission mit.
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