Warnung vor gefährlichen Sekten in der Schweiz
Die religiöse Landschaft in der Schweiz ist im Wandel: Traditionelle Kirchen verlieren immer mehr Anhänger an neue spirituelle Bewegungen. Die Wirtschaftskrise könnte mit ein Grund sein, dass die Menschen nach neuem Halt suchen, um anstehende Probleme zu lösen.
Während offensichtlich viele Menschen in der Schweiz besorgt sind über die Zunahme des Islams, warnen Experten davor, die Gefahr neuer Sekten- und Kultbewegungen zu unterschätzen.
Laut Sektenexperten gibt es schätzungsweise rund 1000 esoterische, christliche und neue religiöse Bewegungen, die neben den traditionellen Kirchen aktiv sind. Etwa 200 davon seien bezüglich ihrer Methoden bei der Mitgliederwerbung und Tätigkeiten problematisch.
«Die Vielfalt ist wohl im Moment das markanteste Merkmal der religiösen Landschaft der Schweiz», sagte Brigitte Knobel, Leiterin des in Genf ansässigen interkantonalen Informationszentrums zu Glaubensfragen.
«Die Globalisierung ermöglicht Glaubensbewegungen, frei zu zirkulieren, so wie es Konsumgüter auch tun», erklärte sie gegenüber swissinfo.ch anlässlich einer Konferenz der Internationalen Vereinigung zu Kult-Studien in Genf anfangs Juli.
«Ein weiterer Grund für die Vielfalt ist, dass sich die Menschen freier fühlen, die Religion zu wählen, die sie wollen.»
Statistiken zu den neusten Trends liegen nicht vor, da die letzte Volksbefragung aus dem Jahr 2000 stammt und nur Zahlen zur Mitgliedschaft in den Haupt-Religionen der Schweiz liefert.
Laut Experten steigt zusammen mit der Zahl spiritueller Gruppen auch die Nachfrage nach Informationen, und zwar sowohl von Leuten, die besorgt sind über ein Familienmitglied, das einer Sekte angehört, wie auch jener, die mehr wissen wollen, bevor sie sich einer religiösen Gruppe anschliessen.
Klima der Angst
Tages-Anzeiger-Journalist Hugo Stamm forscht und schreibt seit 30 Jahren über Sekten und Kulte. Er gilt als führender Schweizer Experte auf diesem Gebiet.
«Wirtschaftskrise und Schweinegrippe tragen dazu bei, dass Sekten und Kultbewegungen zur Zeit einen Aufschwung erleben. Sie schlagen aus der Angst Kapital», schrieb er in einem Zeitungskommentar.
Wie Stamm gegenüber swissinfo.ch erklärte, erhält er mehr Anrufe und E-Mails von besorgten Mitbürgern als üblich – rund 20 pro Woche.
Der Religionswissenschafter Georg Schmid leitet das Informationszentrum über Religionen, Kirchen und Sekten Relinfo. Auch er stellt fest, dass die Anfragen in letzter Zeit zugenommen haben. So befasst er sich pro Monat mit durchschnittlich deren 200.
Laut Schmid kommen immer mehr kleine Gruppen auf, häufig bilden sie sich rund um einen spirituellen Führer oder Heiler. «Heiler sind gross im Trend im Moment, sowohl esoterische wie christliche. Wer heilen kann, hat Recht, so die vorherrschende Meinung.»
Schwächen ausnützen
Das Bedürfnis nach Hilfe könne so gross sein, vermutet Schmid, dass die Leute manchmal sogar ihr kritisches Urteil fallenliessen. «Ihre Schwäche kann ausgenützt werden. Menschen in einer schwierigen Lage sind offen für jegliche religiöse Botschaft.»
Junge Erwachsene, Leute in einer «Midlife»-Krise sowie ältere Menschen seien besonders verwundbar, sagt der Religionswissenschafter.
«Ich hatte ein langes Gespräch mit einer sehr vernünftigen Frau, die einen Mann getroffen hatte – wir würden ihn als Sektenguru bezeichnen. Er strahlte Charme aus und vermittelte den Eindruck, sämtliche Probleme lösen zu können. Sie hatte keine ernsthaften Probleme, war aber mittleren Alters und hatte das Gefühl, noch nicht auf dem rechten Weg zu sein», erklärt Schmid.
«Der Guru beeindruckte mit Liebe, Verständnis und Fachwissen, so dass sich diese kritische Frau unter seinem Einfluss für mehrere Jahre aufgab. Er behandelte sie schlecht, nahm ihr Geld und beutete sie aus.»
Gefahren
Sowohl Schmid wie Stamm glauben, dass die Leute die Gefahren von Sekten und Kulten unterschätzen, auch, weil diese Gruppen zur Zeit in den Medien wenig thematisiert würden.
Als Beispiel nennt Schmid Scientology. In der Vergangenheit seien Scientologen aggressiv aufgetreten, hätten Flugblätter verteilt und Passanten zum Kauf von Büchern gedrängt oder zu einem Persönlichkeitstest überreden wollen. Diese Methoden seien so umstritten gewesen, dass Journalisten zu diesem Thema viele Artikel verfassten.
«Jetzt aber geben sie sich sehr hilfsbereit. An der Bahnhofstrasse in Zürich haben sie eine Genehmigung für einen Stand. Dort haben sie ein kleines Zelt und bieten Massage an. Da sie so freundlich sind, ist es sehr schwierig.»
Die Scientologen hätten sich aber keinen Deut geändert. «Noch immer geht es darum, den Leuten Geld abzuknöpfen. Sobald jemand Mitglied ist, verliert er seine Freiheit. Junge Menschen sind sich der Gefahren nicht bewusst», sagt Schmid.
Negative Darstellung
Laut Jürg Stettler, einem Sprecher der Scientology-Kirche, macht seine Religion unverdientermassen schlechte Schlagzeilen. «Jede Kirche hat zu Beginn Probleme. Vor 150 Jahren wurde die Heilsarmee als gefährlichste Sekte in der Schweiz betrachtet, der Widerstand war immens.»
«Vieles, was über uns gesagt wird, ist falsch, verzerrt und fehlinterpretiert. In einigen Fällen ist es schlicht böser Wille. Gewisse Leute wollen uns negativ darstellen.»
Laut Schmid wird in der Schweiz nur über Sekten berichtet, wenn etwas Negatives passiert. «Die Zahl von Anfragen würde dramatisch ansteigen, wenn wir ein weiteres Sektendrama hätten, was wir natürlich nicht hoffen.»
Ein letztes grösseres Drama geschah vor 15 Jahren, als 48 Mitglieder des Sonnentempler-Ordens an zwei Orten in der Westschweiz tot aufgefunden wurden. Unter den Opfern, die mehrheitlich erschossen wurden, befanden sich mehrere Kinder.
Morven McLean, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
«Sekten sind religiöse Gruppen mit bestimmten Methoden zur Indoktrinierung ihrer Gläubigen. Sie verheissen Freiheit und religiöses Bewusstsein. Die Anhänger müssen aber exakt die von der Sekte vorgegebene Lebensweise übernehmen. Damit verlieren sie die Freiheit, eigene Entscheide zu treffen.»
«Alle Religionen haben gewisse Charakteristia von Sekten. Alle Religionen glauben, den einzigen Weg ins Paradies zu kennen. Weltweit gibt es fast eine Million religiöser Gruppen. Jede von ihnen glaubt, die einzig Richtige zu sein.» (Hugo Stamm)
In der Schweiz bezeichnen sich über drei Viertel der Bevölkerung als Christen: 42% sind Katholiken, 35% Protestanten, 2,2% gehören anderen christlichen Glaubensrichtungen an.
Mit über 311’000 Mitgliedern (4,3%) ist der Islam die zweitgrösste Religion im Land. 12% der Muslime haben einen Schweizer Pass. Sie stammen hauptsächlich aus dem Balkan und der Türkei. Laut Schätzungen dürfte die Zahl inzwischen auf 400’000 angestiegen sein.
Die jüdische Gemeinde zählt 18’000 Mitglieder (0,2%), 80% von ihnen sind Schweizer.
Zudem leben in der Schweiz 28’000 Hindus (aktuell möglicherweise bereits 50’000) sowie 21’000 Buddhisten.
Die internationale Vereinigung über Kult-Studien (ICSA) wurde 1979 gegründet.
Das globale Netzwerk hat den Schutz vor psychologischer Manipulation und Missbrauch durch kultische Gruppen und alternative Bewegungen zum Ziel.
Die ICSA setzt sich für Forschung und professionelle Perspektiven im Zusammenhang mit Problemen ein, welche Familienmitglieder und ehemalige Sektenmitglieder haben.
Zudem arbeitet sie präventiv und macht Personen, die in eine der Gruppen geraten könnten, auf potentielle Risiken aufmerksam.
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