Warum gewählte Frauen sich von der Politik abwenden
Im Jahr 2020 wurden fast 70 Prozent Frauen ins Berner Stadtparlament, den Stadtrat, gewählt. Ein historisches Ereignis. Doch auf die Euphorie folgte Ernüchterung. Inzwischen haben viele gewählte Frauen der Politik den Rücken gekehrt.
«Ich habe gerne Gemeindepolitik gemacht, aber irgendwann musste ich das Handtuch werfen, weil ich Beruf, Privatleben und politisches Engagement nicht mehr unter einen Hut bringen konnte», erzählt Vivianne Esseiva. Sie lebt getrennt, ist alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter und arbeitet zu 80 Prozent bei einer lokalen Bank.
Die 42-Jährige trat im Dezember 2023 zurück, nachdem sie sich über sechs Jahre in der Stadt Bern politisch engagiert hatte. Sie war also kein Neuling im Parlament, die nicht wusste, was es bedeutet, ein Amt in der Legislative zu bekleiden. «Als Politikerin im Schweizer Milizsystem muss man immer Opfer bringen», bilanziert Esseiva.
Doch für die freisinnige Politikerin war der Aufwand schliesslich zu gross geworden. Genauso wie Vivianne Esseiva haben seit den letzten Gemeindewahlen weitere 26 Frauen den Berner Stadtrat verlassen.
Und so endet die Legislaturperiode, die nach einer historischen Wahl im November 2020 mit einem Frauenanteil von 69 Prozent begann, vier Jahre später mit einer Stadträtinnen-Quote von 57,5 Prozent. Gleichwohl ist es immer noch eine der höchsten prozentualen Frauenanteile in Parlamenten auf der ganzen Welt.
Die von der Interparlamentarischen Union (IPU) und UN Women veröffentlichten Weltkarte Frauen in der Politik: 2023Externer Link zeigt auf, dass Frauen auf allen Entscheidungsebenen unterrepräsentiert sind und dass die Gleichstellung der Geschlechter in der Politik noch lange nicht erreicht ist.
Am 1. Januar 2023 besetzten Frauen weltweit im Durchschnitt nur 26,5 Prozent der Sitze in gesetzgebenden Organen. Die Rangliste wird seit Jahren von Ruanda mit einer Quote von 61,3 Prozent angeführt, während sie in Deutschland 35,1 Prozent, in Italien 32,3 Prozent und in der Schweiz nach den eidgenössischen Wahlen vom vergangenen Oktober 38,5 Prozent (Nationalrat) beträgt.
Bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023 wurden 77 Frauen in den Nationalrat (200 Sitze) gewählt, sieben weniger als 2019. Der Anteil der Frauen sank auf 38,5 Prozent. Dies ist gleichwohl das zweitbeste Ergebnis seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Im Ständerat (46 Mitglieder) gab es einen Sprung nach vorne: Es wurden vier Frauen mehr gewählt (insgesamt 16) als 2019, wodurch der Frauenanteil mit 34,8 Prozent den höchsten Wert in der Geschichte der Kleinen Kammer erreichte.
Die meisten Nationalrätinnen gehören – wie schon 2019 – der SP und den Grünen an. Die Grünliberale Partei verzeichnete mit 70 Prozent den höchsten Frauenanteil. Bei der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sank der Frauenanteil hingegen unter die 20-Prozent-Marke.
Die erste weibliche Vertreterin in der Regierung war Elisabeth Kopp (FDP) im Jahr 1984. Nach einer vierjährigen Unterbrechung haben Frauen seit 1994 wieder mindestens einen Sitz in der Bundesexekutive. Zwischen 2010 und 2011 hatte die Regierung eine weibliche Mehrheit mit vier Bundesrätinnen. Seit 2019 besteht der Bundesrat aus vier Männern und drei Frauen.
Quelle: Die Frauen bei den eidgenössischen Wahlen 2023, Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF (19.12.2023)
Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen
Die Vereinbarkeit von Politik mit Beruf und Privatleben ist ein schwieriger Balanceakt, der nicht nur Frauen, sondern auch Männer betrifft. So haben im Berner Stadtrat in den letzten vier Jahren neben 27 Frauen auch 19 Männer ihr Mandat niedergelegt, also zusammen mehr als die Hälfte der insgesamt 80 gewählten Stadtratsmitglieder.
«Dieser prozentuale Anteil überrascht mich nicht», sagt Sarah BütikoferExterner Link, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich, «eine 50-prozentige Fluktuation in kantonalen und kommunalen Parlamenten ist ganz normal.» Laut der Politologin und Mitarbeiterin des Sotomo-Instituts für Meinungsforschung neigen Kandidierende für politische Ämter oft dazu, das nötige Engagement und den Zeitaufwand zu unterschätzen. Bei der Wahl zwischen einer politischen und einer beruflichen Karriere entschieden sie sich Frauen häufig auf Grund der Planbarkeit und des besseren Einkommens für den Beruf.
Valentina AchermannExterner Link, Präsidentin des Berner Stadtrats und Vertreterin der Sozialdemokratischen Partei SP, betont ebenfalls den ökonomischen Aspekt: «Es ist ein Problem, das aus demokratiepolitischen Gründen angegangen werden muss. Denn die geringen Sitzungsgelder führen effektiv zum Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen, die es sich nicht leisten können, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, um ein politisches Amt zu übernehmen.»
Durch die vielen Rücktritte kommt es zu einer ständigen Fluktuation im Parlament. Das ist ein Problem, mit dem das Berner Stadtparlament seit Jahren konfrontiert ist. Deshalb hat das Sekretariat des Stadtrats dieses Jahr eine UmfrageExterner Link durchgeführt, um die Gründe für die zahlreichen Abgänge zu eruieren.
«Rund 80 Prozent der Parlamentarierinnen und Parlamentarier empfinden das politische Amt in Kombination mit Beruf oder Studium und privaten Verpflichtungen als anspruchsvoll», sagt die 30-jährige Achermann.
Die Umfrage ergab eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Situation, darunter die Verkürzung oder Reduktion der Anzahl Sitzungen, die Erhöhung der finanziellen Entschädigungen oder die Möglichkeit, bei längerer Abwesenheit eine Stellvertretung bestimmen zu können.
Von der Schwierigkeit, Gewohnheiten zu ändern
Ein anderes Problem: Die politischen Mühlen mahlen langsam; für Vivianne Esseiva eindeutig zu langsam. «Bei einer so klaren weiblichen Mehrheit hätte ich schnellere Fortschritte erwartet, aber es ist schwierig, eingefahrene Gewohnheiten auszurotten», meint sie.
Die ehemalige Stadträtin verweist zum Beispiel auf die Gewohnheit, die Parlamentssitzungen jeweils auf den späten Nachmittag zu legen, was für Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern müssen, schwierig sei.
Die Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer wünscht sich mehr Taten von Seiten des eidgenössischen Parlaments, um Bewegung in die verkrusteten Abläufe zu bringen. Das nationale Parlament sollte ihrer Meinung nach in Gleichstellungsfragen eine Vorreiterrolle spielen.
Die im Oktober 2024 erschienene Studie Can(‹t) have it all? Parents in the Swiss ParliamentExterner Link, welche Bütikofer mitverfasst hat, zeigt auf, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in den parlamentarischen Karrieren gibt.
Mütter mit minderjährigen Kindern haben seltener die Präsidentschaft oder Vize-Präsidentschaft einer parlamentarischen Kommission inne als Väter. «Es gibt derzeit einige, allerdings zaghafte Fortschritte, auch dank der Präsenz junger Mütter in der Politik, die sich für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Privatleben und politischem Amt einsetzen», stellt Bütikofer fest.
Einige Länder haben Geschlechterquoten in Wahllisten eingeführt, die zu einer höheren Vertretung von Frauen beigetragen haben. So führte SpanienExterner Link 2007 eine 40-Prozent-Quote ein, wodurch der Anteil der Frauen im Parlament auf 41 Prozent stieg. Auch ItalienExterner Link verzeichnete dank einer Quotenregelung eine der schnellsten Zuwachsraten in Europa: Der Frauenanteil stieg von 9,9 Prozent im Jahr 2004 auf 35,8 Prozent im Jahr 2019.
Auf den Listen für die eidgenössischen Wahlen im Oktober 2023 waren die Frauen in linken Parteien wie der Sozialdemokratischen Partei und den Grünen in der Mehrheit (jeweils 53,5 Prozent). Auch auf den Listen der Evangelischen Partei der Schweiz waren die Frauen mit 51,9 Prozent in der Mehrheit. In den Listen der rechts-bürgerlichen Parteien lag der Frauenanteil mit 35,9 Prozent bei der FDP und 22,6 Prozent bei der SVP deutlich tiefer.
In der Schweiz forderten zwei parlamentarische InitiativenExterner Link eine ausgewogenere Vertretung der Geschlechter auf den Wahllisten. Vorgeschlagen wurde unter anderem die Einführung eines Anreizsystems: Parteien, die in ihren Wahllisten für die Nationalratswahlen keine ausgewogene Vertretung der Geschlechter aufweisen (mindestens 40 Prozent Frauen) sollten reduzierte Fraktionsbeiträge erhalten. Beide Initiativen wurden vom Nationalrat im September 2020 abgelehnt.
Die Politikwissenschaftlerin weist darauf hin, dass es vor allem die Frauen sein werden, die weiterhin die Last der Hausarbeit mit ihren beruflichen und politischen Ambitionen in Einklang bringen müssen, zumindest solange die familiäre Betreuung bei Paaren nicht gleichmässig auf die Partner verteilt ist.
Diese Asymmetrie zwischen den Geschlechtern gibt es nicht nur in der Schweiz. «In Italien wird nichts getan, um eine Vereinbarkeit von beruflichem, familiären und politischen Leben zu ermöglichen», sagt Barbara PoggioExterner Link, Professorin am Institut für Soziologie und Sozialforschung an der Universität Trient. Im Global Gender Gap 2024Externer Link des Weltwirtschaftsforums (WEF) liegt Italien auf Platz 87 von 146 Ländern.
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Opfer von Hassreden
Die Professorin der Universität Trient weist zudem darauf hin, dass Frauen oft Hass in den sozialen Medien ausgesetzt seienExterner Link, nicht nur in Italien. Das habe eine abschreckende Wirkung und führe dazu, dass sich Frauen häufig aus der Politik zurückzuziehen. «Frauen, die sich Gehör verschaffen, werden oft Opfer von so genannten Shitstorms», erklärt Poggio. Es sei nötig, das Selbstbewusstsein zu fördern, um Mädchen und Frauen zu ermutigen, sich aktiv am öffentlichen Leben zu beteiligen und ihre Meinung zu äussern. Das sei grundlegend für politisches Engagement.
Auch die zurückgetretene Berner Stadträtin Vivianne Esseiva unterstreicht trotz ihrer eigenen Erfahrung die Bedeutung der politischen Partizipation. Sie fordert junge Frauen auf, sich in der Politik zu engagieren: «Es braucht Ausdauer und Zeit, aber nur dann haben wir eine Chance, die Gleichstellung der Geschlechter und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Politik und Privatleben zu fördern.»
Elisabeth Kopp von der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) wurde 1984, 13 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts, als erste Frau in die Schweizer Regierung (Bundesrat) gewählt.
Giorgia Meloni von der Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) ist seit dem 22. Oktober 2022 italienische MinisterpräsidentinExterner Link. Sie ist seit der Einführung des allgemeinen FrauenwahlrechtsExterner Link in Italien 1946 die erste Frau, die eine italienische RegierungExterner Link anführt.
Margaret Thatcher, Vorsitzende der britischen Konservativen Partei, war die erste weibliche Premierministerin des Vereinigten Königreichs und hatte dieses Amt von 1979 bis 1990 inne. Sie war eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und wurde vor allem für ihre neoliberale Wirtschaftspolitik bekannt.
Isabel Perón trat 1974 die Nachfolge ihres Mannes Juan Perón an und war die erste weibliche Präsidentin Argentiniens. 1976 wurde sie durch einen Militärputsch abgesetzt.
Ellen Eugenia Johnson Sirleaf war von 2006 bis 2018 Präsidentin von Liberia. Sie war die erste Frau, die in Afrika zum Staatsoberhaupt eines Landes gewählt wurde.
Editiert von Daniele Mariani und Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob/jg
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