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Wenig Interesse der Jungen an politischer Bildung

Spontane politische Aktionen sind bei Jugendlichen beliebter als Abstimmungen und Wahlen: Im Mai 2011 demonstrierten 1000 Schüler in Bern gegen Atomkraft. Keystone

Die Beteiligung von jungen Wählerinnen und Wählern an Abstimmungen und Wahlen liegt in der Schweiz sehr tief. In den Lehrplänen der Schulen nimmt politische Bildung wenig Raum ein. Die Sensibilisierung für politische Themen gestaltet sich schwierig.

Kurz vor dem Entscheid des Bundesrats zur Zukunft der Atomenergie in der Schweiz strömten Ende Mai in Bern rund 1000 Schülerinnen und Schüler auf die Strassen, um gegen Atomkraft zu demonstrieren. Es zeigte sich: Bei bestimmten Themen lassen sich die Jungen mobilisieren. Das Interesse der Jungbürger gegenüber der Politik ist also noch nicht ganz erloschen.

Doch generell lodert das politische Feuer der 18 bis 29-Jährigen im Lande der direkten Demokratie auf sehr kleiner Flamme. «Die jungen Leute interessieren sich für aktuelle politische Themen, beispielsweise ein Ereignis wie Fukushima. Doch sie ziehen spontane und schnelle Aktionen der langfristigen politischen Arbeit oder der Beteiligung bei Abstimmungen vor», sagt Lukas Golder, Politologe am Forschungsinstitut gfs.bern.

Kritische Situation

Golder war an mehreren Analysen zum Abstimmungsverhalten der 18- bis 29-Jährigen beteiligt. Und er hat festgestellt, dass die Beteiligung an Wahlen seit rund drei Jahren rückläufig ist (die mittlere Stimmbeteiligung liegt bei 45 Prozent). «Schon vorher hat sich diese Altersgruppe wenig beteiligt, doch jetzt ist die Situation noch kritischer geworden», hält er fest.

Die jungen Wahlberechtigten schauten sich Wahl- und Abstimmungsunterlagen immer seltener an. «Doch paradoxerweise engagieren sie sich vermehrt in politischen Bewegungen und bei Demonstrationen», betont Geo Taglioni,  Leiter für nationale Politik und Partizipation in der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände.

Für Lukas Golder ist das Desinteresse an Abstimmungen und Wahlen die Folge von Fehlern in der politischen Erziehung. Natürlich spielt die Familie eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer politischen Kultur; Verantwortung trägt aber auch die Schule.

Dies gilt vor allem für ein Land wie die Schweiz mit einem sehr komplizierten politischen System. «Und es gilt im Besonderen für Einwohner mit ausländischen Wurzeln», betont der Politologe. Er fordert daher, dass in der Schule Jugendliche ab 15 Jahren stärker für politische Fragen sensibilisiert werden.

Drei Kantone, drei Systeme

Primarschulen, Berufsschulen und Gymnasien sollten eigentlich politisch mündige Bürger heran ziehen. Erfüllen die Schulen ihre Aufgabe nicht? «Der Grad der Information hängt von vielen Faktoren ab, insbesondere aber von der Fähigkeit der Lehrer», sagt Geo Taglioni. Jugendliche beurteilten das vermittelte Fachwissen in Staatskunde oder Geschichte äusserst unterschiedlich.

Dazu kommt, dass jeder Kanton in der föderalistischen Schweiz sein eigenes Bildungssystem hat. Im Kanton Tessin und Zürich ist Staatskunde beispielsweise in Fächer wie Geschichte und Geografie integriert. Im Kanton Waadt gibt es seit 2006 während der obligatorischen Schulzeit einen spezifischen Unterricht für Staatskunde und politische Bildung.   

Im Tessin wurde 2005 eine entsprechende parlamentarische Initiative abgelehnt. «Die politischen Kenntnisse sollten durch einen integrativen Ansatz verbessert werden», hält Diego Erba, Koordinator der kantonalen Erziehungsdepartements, fest. Den gleichen Ansatz wählte 2005 der Kanton Zürich, um die Kenntnisse der Schüler in politischer Bildung zu verbessern, wie Brigitte Mühlemann von der Abteilung Pädagogik in der Bildungsdirektion Zürich erklärt.

Kein zentraler Lernstoff

In den meisten Schweizer Kantonen nimmt die politische Bildung nach wie vor wenig Platz im Lehrplan ein. «Bevor wir eine Wochenstunde einführten, war der Unterricht in politischer Bildung dem Fach Geschichte angegliedert. Aber damals hat man diesen Stoff effektiv nicht so häufig unterrichtet», meint Grégoire Gingins, der an der Sekundarschule Montreux-Ost (Kanton Waadt) Wirtschaft, Recht und Staatskunde unterrichtet.

«Persönlich bin ich der Meinung, dass man im Unterricht nicht zu sehr die formelle Aspekte unseres politischen Systems behandeln sollte, sondern die Schüler vor allem für bestimmte Probleme sensibilisieren sollte, um den Gefahren einer Manipulation vorzubeugen», betont Grégoire Gingins. Zudem könne sonst die Lust, an einer Abstimmung teilzunehmen, noch geringer werden.

Er verweist zudem darauf, dass sich die Schülerinnen und Schüler in der Schweiz gemäss einer internationalen Studie in Bezug auf die Kenntnisse in politischer Bildung auf Platz 8 befinden, noch hinter Irland und Polen.

Der richtige Filter

 

Die Schulen müssen in Bezug auf die politische Bildung der Jungen zulegen. Und sie sollten dabei gemäss Geo Taglioni vor allem ihre Unterrichtsmittel anpassen und auf die neuen Medien setzen. «Die Herausforderung für die jungen Menschen heute besteht in der Tatsache, dass sie die Informationen, die sie erhalten, filtern müssen. Die Schulen müssen den Schülern zeigen, wie sie Internet korrekt verwenden, um die richtigen Informationen zu erhalten.»

Diese Kompetenzen sind heute unabdingbar für junge Leute, um sich eine eigene politische Meinung bilden zu können. Gemäss einer Voxanalyse aus dem Jahr 2009 greifen 35 Prozent der 18- bis 29-Jährigen auf Internet zurück, um die eigene Position bei einer Abstimmungsvorlage festzulegen.

In der Schweiz ist das Bildungswesen von der Vorschule (Kindergarten) bis zur Tertiärstufe (Hochschulen und höhere Berufsbildung) eine Staatsaufgabe. Die Verantwortung für das Bildungswesen obliegt in erster Linie den 26 Kantonen.

Im nachobligatorischen Bereich (Gymnasien, Berufsbildung und Hochschulen) sind Bund und Kantone Partner in der Verantwortung für das öffentliche Bildungswesen. Die Kantone und ihre Gemeinden finanzieren mehr als 80% der Bildungsausgaben der öffentlichen Hand.

Quelle: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren

Tessin: Ein Jugendparlament mit Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren wurde vor gut 10 Jahren ins Leben gerufen. Es tagt drei bis vier Mal im Jahr. Jedes Jahr wird ein Schwerpunktthema gewählt, zu dem Empfehlungen und Vorschläge an den Staatsrat ergehen. Dieser muss schriftlich antworten sowie sich in einer Debatte der Diskussion im Jugendparlament stellen.

Waadt: Im Rahmen der kantonalen Gesetzgebung existiert seit 1. Juli 2010 eine Jugendkommission, in der 14- bis 18-Jährige einsitzen. Die Kommission kann zu Gesetzesentwürfen Stellung nehmen, zu bestimmten Fragen angehört werden, oder auch dem Staatsrat Vorschläge unterbreiten.

Zürich: Hier gibt es kein entsprechendes Gremium. Vor kurzem haben jedoch zwei grüne Kantonsräte einen entsprechenden Vorstoss eingereicht, um die gesetzlichen Grundlagen zur Einrichtung eines Jugendparlaments auf kantonaler Ebene zu schaffen.

Am 31.Mai 2011 haben mehre Kantone den Startschuss für das Projekt «Polittour» gegeben, das junge Menschen an politische Themen heran führen soll.

Unter dem Motto «Mehr Raum und Mitspracherecht für Jugendliche» sollen insbesondere Themen wie Arbeit oder Gesellschaft diskutiert werden. Aber auch Ökologie, Kultur, Politik und lokale Themen sollen Raum für Diskussionen erhalten.

Zu diesem Zweck werden Jungpolitikerinnen und Jungpolitiker unterschiedlicher Parteien in die Schulen gehen, um mit den Schülern auf Augenhöhe zu diskutieren.

(Übertragung aus dem Französischen: Gerhard Lob)

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