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Wie die EU die Schweizer Debatte über Konzernverantwortung neu belebt

Ein Junge steht in braunem Wasser und leert einen Sack mit Schlamm in einen Holzbehälter.
Die aktuelle Gesetzgebung in der Schweiz geht den Koalitions-Mitgliedern nach wie vor nicht weit genug. Diese verlangt von den Unternehmen lediglich, die Risiken von Kinderarbeit und der Beschaffung von Mineralien aus Konfliktgebieten in ihren Lieferketten zu ermitteln und zu melden. Magda Gibelli / AFP

Konzerne mit Sitz in der Schweiz sollen auch bei globalen Geschäften Menschenrechte und Umweltstandards achten. Das will eine Initiative, die im Januar lanciert wird – zum zweiten Mal. Damit soll sich die Schweiz den neuen EU-Gesetzen anpassen.

Im Mai 2024 hat das Europäische Parlament das neue LieferkettengesetzExterner Link in Kraft gesetzt. Es umfasst Sorgfaltspflichten zu Menschenrechten und Umweltstandards für Unternehmen ab einer bestimmten Grösse, aber auch für deren Zulieferer. Ausserdem müssen die betroffenen Unternehmen darlegen, wie sie ihre Treibhausgasemissionen reduzieren wollen. Bei Verstössen gibt es eine unabhängige Aufsichtsbehörde, die Sanktionen gegen Unternehmen aussprechen kann.

Das entspricht inhaltlich ungefähr dem, was die Konzernverantwortungsinitiative für die Schweiz vorsah, über die im November 2020 abgestimmt wurde. Zwar stimmten damals 50,7% der Schweizer Bevölkerung für das neue Gesetz, die Initiative scheiterte aber am Ständemehr: Ein paar tausend Stimmen gaben den Ausschlag.

Der Bundesrat lehnte die Initiative ab mit dem Argument, dass anstelle eines Schweizer Alleingangs ein «international abgestimmtes» Vorgehen besser sei. Was er damit meinte: Die Schweiz solle ihre Regeln nach der EU ausrichten. Das aktuelle EU-Lieferkettengesetz nimmt diesem Argument seine Gültigkeit.

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Eine Koalition bringt sich in Position

«Ohne griffige Regelung ist die Schweiz bald das einzige Land ohne Konzernverantwortung», sagt Dominique de Buman, Vorstandsmitglied der Koalition für KonzernverantwortungExterner Link, einem Zusammenschluss zahlreicher NGOs und politischer Vertreter:innen, die bereits bei der ersten Initiative treibende Kraft war.

Die aktuelle Gesetzgebung in der Schweiz geht den Koalitions-Mitgliedern nach wie vor nicht weit genug. Diese verlangt von den Unternehmen lediglich, die Risiken von Kinderarbeit und der Beschaffung von Mineralien aus Konfliktgebieten in ihren Lieferketten zu ermitteln und zu melden. Ohne Sanktionsmöglichkeiten sei diese Regelung wirkungslos, kritisiert de Buman. «Um international nicht den Anschluss zu verlieren, muss die Schweiz jetzt nachziehen», fordert er.

Deshalb lanciert die Koalition am 7. Januar 2025 zum zweiten Mal eine Konzernverantwortungsinitiative. Ab dann läuft die Unterschriftensammlung, bei der sie in einer Rekordzeit von 30 Tagen die nötigen 100’000 Unterschriften zusammenbringen wollen. Das solle auch Druck auf die Schweizer Regierung ausüben, die im kommenden Frühjahr über das weitere Vorgehen in der Sache entscheiden werde.

Tatsächlich dürfte das Anliegen diesmal mehr Chancen haben. Einerseits kommen immer mehr Fälle ans Licht, bei denen Grosskonzerne ihre Verantwortung missachtet haben. Etwa wenn ein Pestizid eines Agrarkonzerns das Trinkwasser in Costa-Rica vergiftet; wenn ein Rohstoffkonzern für eine Kohlemine in Borneo Regenwald rodet oder eine Raffinerie Gold aus einer Mine in Äthiopien bezieht, die bei den Anwohner:innen zu schweren Gesundheitsschäden führt.

Initiative oder Appell?

Andererseits haben rund 150 Politiker:innen und Unternehmer:innen den von der Koalition lancierten «AppellExterner Link für Konzernverantwortung im internationalen Gleichschritt» unterzeichnet. Darunter sind auch etliche Personen aus dem bürgerlichen Lager, die die Konzernverantwortungs-Initiative im Jahr 2020 noch abgelehnt hatten.

«Die Ausgangslage hat sich mit dem EU-Entscheid fundamental geändert», sagt Doris Fiala, ehemalige FDP-Nationalrätin, in einem Statement: «Das Argument, wir würden mit einem Schweizer Konzernverantwortungsgesetz wirtschaftlich abgehängt und wären international nicht mehr wettbewerbsfähig, ist nicht mehr haltbar.»

Sogar beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, der sich mehrheitlich gegen die EU-Regeln stellt, gibt es Befürworter:innen. Darunter Vorstandsmitglied und Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter. Gegenüber der NZZ am Sonntag sagte sie: «Wir sollten die EU-Richtlinien möglichst schlank und wirtschaftsfreundlich umsetzen. Dann können die Firmen damit leben.»

Das EU-Lieferkettengesetz wird die Schweiz ohnehin betreffen. Einerseits jene Schweizer Firmen, die in der EU mehr als 450 Millionen Euro pro Jahr erwirtschaften. Andererseits Firmen, die Grossunternehmen in der EU beliefern und damit zu deren Lieferketten gehören. Darunter befinden sich vor allem kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Laut einer vom Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft SECO in Auftrag gegebenen StudieExterner Link aus dem Jahr 2023 könnten bis zu 50’000 KMU von diesem Kaskadeneffekt betroffen sein.

Eine Scheune aus Holz mit einem Plakat der Konzernverantwortungsinitiative
Die Konzernverantwortungsinitiative von 2020 führte zu einer grossen Mobilisierung in der ganzen Schweiz. KEYSTONE/Peter Schneider

Die EU reguliert – die Schweiz zieht nach

Anders als bei der Konzernverantwortungsinitiative, welche betroffene Grosskonzerne oft skeptisch beurteilen, gibt es unter den KMU ein grosses Bedürfnis nach einer einheitlichen Regulierung. Rund 600 in der Schweiz tätige Firmen haben sich der «Allianz für nachhaltige UnternehmenExterner Link» angeschlossen, die im Jahr 2023 gegründet wurde.

Ihr Vorschlag: Ein freiwilliger Rechtsstatus für Schweizer KMU, der sie als «nachhaltige Unternehmen» zertifiziert, wenn sie gewisse Standards einhalten, zum Beispiel betreffend Arbeitsbedingungen, Abfall oder Treibhausgasemissionen. Damit müssten die Firmen nicht selbst im Dschungel aus privaten Zertifikaten das richtige heraussuchen, sondern sie könnten auf einen offiziellen Status zurückgreifen.

«Viele KMU sind verunsichert, was sie tun müssen, um weiterhin in europäische Länder exportieren zu können», sagt Jonathan Normand von der Stiftung B LabExterner Link und Sprecher der Allianz für nachhaltige Unternehmen. Schliesslich sei die EU der wichtigste Handelspartner der Schweiz: «Damit Schweizer Firmen wettbewerbsfähig bleiben, brauchen sie endlich Klarheit.»

Das Anliegen ist auch im Parlament angekommen: Im September hatten 84 Schweizer CEOs einen Brief Externer Linkan die Nationalräte und Nationalrätinnen gerichtet und sie aufgefordert, die KMU bei der Anpassung an die neuen Nachhaltigkeitsanforderungen zu unterstützen. Zu ihnen gehört Patrick Semadeni der Semadeni Industry Group, die vor allem in der Kunststoff-Produktion tätig ist. Er sagt: «Für KMU ist Nachhaltigkeit längst keine Option mehr, sondern eine Notwendigkeit – ihre Perspektiven gehören deshalb zwingend in die politischen Debatten eingebunden.»

Es folgte die AnnahmeExterner Link eines Postulats durch den FDP-Ständerat Josef Dittli, das den Bundesrat dazu aufforderte, die Auswirkungen der EU-Nachhaltigkeits-Richtlinien auf die schweizerischen KMU zu untersuchen. Nächstes Jahr soll der Bericht mit konkreten Handlungsansätzen vorliegen.

Editiert von Balz Rigendinger

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