Wie wärs mit einer Frauenmehrheit im Bundesrat?
Nach dem angekündigten Rücktritt von Bundesrat Moritz Leuenberger wird über eine mögliche Frauenmehrheit im Bundesrat spekuliert: Es wäre das erste Mal, dass der Bundesrat in Frauenhand wäre. Eine Aussicht, die für Diskussionen sorgt.
Im Moment sitzen vier Männer und drei Frauen im in der Landesregierung. Gäbe nach Verkehrsminister Moritz Leuenberger auch noch Finanzminister Hans-Rudolf Merz seinen Rücktritt bekannt, könnten jedoch theoretisch bereits ab nächstem Jahr vier oder fünf Frauen in der Regierung Einsitz nehmen.
Für die Nachfolge des Sozialdemokraten Moritz Leuenberger werden vor allem zwei Kandidatinnen gehandelt: Die Berner Konsumentenschützerin und Ständerätin Simonetta Sommaruga und die Zürcher Nationalrätin Jacqueline Fehr. Im Gespräch ist auch Nationalratspräsidentin Pascale Bruderer.
Als Wunschkandidatin im Falle eines Rücktritts des Freisinnigen Hans-Rudolf Merz nennt die Partei etwa die St. Galler Regierungsrätin Karin Keller-Sutter.
Würden von diesen potentiellen Kandidatinnen eine oder zwei in den Bundesrat gewählt, würden sie zusammen mit Bundespräsidentin und Wirtschaftsministerin Doris Leuthard, Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf und Aussenministerin Micheline Calmy-Rey eine Frauenmehrheit bilden – die Schweiz wäre damit mit Finnland die einzige Regierung in Europa in Frauenhand.
In Politik- und Medienkreisen stossen diese Aussichten auf gemischte Reaktionen: Neben euphorischen Äusserungen werden auch Ängste laut, wie etwa jene vor einer «Feminisierung» im Bundesrat, von befürchtetem «Chaos» und «Frauenstreitereien».
«Typisch Frau»
Laut einer kürzlich vom Institut Isopublic durchgeführten Umfrage begrüssen drei Viertel der befragten Schweizer und Schweizerinnen eine Mehrheit von vier oder fünf Frauen im Bundesrat.
Ist die Schweiz also so weit? «Ich glaube, dass die Schweiz grundsätzlich bereit ist für eine Frauenmehrheit in der Regierung», sagt die christlichdemokratische Nationalrätin Kathy Riklin gegenüber swissinfo.ch. «Doch sobald irgendwelche Probleme auftreten, könnte es heissen: ‹Typisch Frauen, sie haben es überhaupt nicht im Griff›.» Es könnte etwa auch der Vorwurf kommen, die Frauen würden die Interessen der Wirtschaft nicht genügend vertreten.»
Im Parlament hätten einige Männer ein Problem mit der Vorstellung, dass schon bald die Frauen eine Mehrheit bilden könnten, doch sie würden sich dazu nicht in der Öffentlichkeit äussern.
Für Riklin könnte die mögliche Fünfer-Vertretung auch einfach eine «einmalige Phase» sein. «Wir hatten in der Zürcher Kantonsregierung einst auch eine Frauenmehrheit, im Moment haben jedoch nur noch zwei Frauen Einsitz.»
«Warum sollten sich Männer daran stören?»
Tatsache ist: Die mögliche Frauenmehrheit im Bundesrat sorgt für Diskussionen. «Warum sollen sich Männer daran stören, wenn möglicherweise bald fünf Frauen im Bundesrat Einsitz nehmen? Während fast 150 Jahren bestand der Bundesrat fast ausschliesslich aus Männern», schrieb die 73-jährige Elisabeth Kopp, die von 1984 bis 1989 die erste Frau im Bundesrat war, in der NZZ am Sonntag vom 18. Juli.
In die Schweizer Regierung gehörten Frauen und Männer. Welches Geschlecht die Mehrheit habe, sei unerheblich. Entscheidend sei die Eignung für das Amt. «Dass das Thema Geschlecht nicht mehr thematisiert wird, muss der nächste Schritt sein.»
Auch die Politologin Regula Stämpfli wundert sich über die aktuelle Debatte. Für sie wäre eine Frauenmehrheit im Bundesrat angesichts der Tatsache, dass die Schweiz das Frauenstimmrecht 1971 als eines der letzten Länder Europas einführte, ein letzter symbolischer Akt.
Stämpfli sieht jedoch zurzeit eine Art Gegenbewegung, insbesondere in den Medien, zu den in den letzten 20 Jahren erreichten Verbesserungen in der Gleichstellung. Wie Kopp versteht auch Stämpfli nicht, weshalb eine Frauenmehrheit im Bundesrat im Gegensatz zu einer Männermehrheit ein Problem sein sollte.
Vormachtstellung der Männer in Wirtschaft
Auf den ersten Blick scheine die Schweiz, wo heute 20 bis 30 Prozent der Parlamentarier Frauen sind, und mit Pascale Bruderer und Erika Forster sowohl im Nationalrat als auch im Ständerat eine Frau an der Spitze sitzt, Fortschritte gemacht zu haben, so Stämpfli.
Von einer Feminisierung der Macht könne jedoch nicht die Rede sein. «Die Vertretung der Frauen in der Politik zeigt lediglich, dass diese im Vergleich mit den Medien, dem Finanzsektor und den multinationalen Konzernen, wo die Frauen mit weniger als 10 Prozent vertreten sind, an Bedeutung verloren hat.»
Laut Riklin könnte eine Frauenmehrheit im Bundesrat diesen Bedeutungsverlust insbesondere zu Gunsten der Privatwirtschaft noch verstärken.
Für Christian Dorer, Chefredaktor der Aargauer Zeitung, zeigt die Tatsache, dass die Schweiz nach Finnland in Europa die zweite Regierung mit einer Frauenmehrheit werden könnte, dass Frauen Kaderjobs aufgrund ihrer Qualifikation und nicht wegen der Frauenquote erhielten.
In einem Editorial wendet er sich auch an jene, die sich keine Fünfer-Vertretung der Frauen im Bundesrat wünschen: «Eine von Frauen dominierte Regierung kann unmöglich weniger kooperativ und unstimmig sein als der aktuelle von Männern dominierte Bundesrat.»
Isobel Leybold-Johnson, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Corinne Buchser)
1971: Das Frauenstimmrecht wird angenommen. Bei den darauffolgenden Parlamentswahlen werden 10 Frauen in den Nationalrat gewählt.
1990: Appenzell Innerrhoden wird vom Bund gezwungen, das Frauenstimmrecht einzuführen.
1984: Elisabeth Kopp wird zur ersten Bundesrätin gewählt.
1999: Bundesrätin Ruth Dreifuss wird als erste Frau Bundespräsidentin.
2003: In Zürich wird die erste Frauenmehrheit in eine Kantonsregierung gewählt.
2008: Mit der Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf sitzen erstmals drei Frauen im Bundesrat.
2010: Mit Doris Leuthard als Bundespräsidentin, Pascale Bruderer als National- und Erika Forster als Ständeratspräsidentin werden die drei wichtigsten politischen Ämter in der Schweiz erstmals alle von Frauen bekleidet.
Laut einer vom Institut Isopublic im Auftrag der «SonntagsZeitung» durchgeführten Umfrage begrüssen drei Viertel der befragten Schweizer eine Mehrheit von vier oder mehr Frauen im Bundesrat.
83% der Befragten halten das Geschlecht für bedeutungslos. 9% glauben, Männer würden besser regieren, und 8% schreiben den Frauen bessere Regierungsfähigkeiten zu.
Befragt nach der Stimmung in der Bevölkerung jedoch, schätzt knapp die Hälfte, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer ein Problem mit einer Frauendominanz in der Regierung hätte.
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