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Wie weiter nach Rückzug Israels aus Gaza?

Ein junger Palästinenser in den Ruinen eines Lagerhauses in Jabaliya (Keystone) Keystone

Während die Diplomatie ihre Dienste im Nahen Osten wieder aufnimmt, untersucht Pascal de Crousaz, Spezialist für den Nahostkonflikt, die Auswirkungen der israelischen Offensive in Gaza und die Friedensaussichten für die Region.

Am Mittwoch beendete die israelische Armee ihren Truppenabzug aus dem Gazastreifen, vier Tage nach dem Waffenstillstand, der von Israel und der Hamas separat ausgerufen worden war.

Zahlreiche humanitäre Organisationen verlangen eine dauerhafte Öffnung aller Grenzübergänge in den Gazastreifen, damit die Hilfsgüter rasch befördert werden können.

«Die Situation ist ähnlich wie nach einem Erdbeben», erklärte ein Sprecher der UNRWA, einer Organisation der UNO für die Flüchtlingshilfe in Palästina.

Eben aus der Region zurückgekehrt, zieht der Genfer Pascal de Crousaz eine erste Bilanz der israelischen Offensive in Gaza und deren Konsequenzen für die Palästinenser und Israeli.

swissinfo: Hat die israelische Offensive in Gaza ihr Ziel erreicht?

Pascal de Crousaz: Die israelische Regierung gab sich eher bedeckt, was die Ziele anbelangte. Man wollte auf keinen Fall die begangenen Fehler der Offensive im Libanon von 2006 wiederholen.

Israel sprach davon, mit dieser Offensive die Hamas erheblich zu schwächen, das Abschreckungspotential der Tsahal, der israelischen Streitkräfte, wieder herzustellen und den Waffenschmuggel nach Gaza zu verhindern, wo am meisten Opfer zu beklagen waren.

Man muss nun das Abkommen abwarten, das die politische und militärische Situation in der Region in den nächsten Monaten regeln soll, erst dann wird man wissen, ob die Ziele vollumfänglich erreicht wurden.

Im Moment sind Verhandlungen im Gange, Ägypten und die EU fungieren als Vermittler.

Die Hamas erlitt schwere Verluste, ebenso die Bevölkerung von Gaza, das muss man klar sagen. Aber die Hamas hat sich gewaltig geirrt. Es ist ihr nicht gelungen, mit Raketenbeschuss und der Missachtung der Waffenruhe die israelische Regierung kurz vor den Wahlen unter Druck zu setzen, in der Hoffnung, sie würde die Blockade des Gazastreifens lockern.

Die radikal-islamische Hamas-Bewegung unterschätzte die Reaktion der Israelis jedoch komplett. Angesichts der verheerenden Zerstörungen der Infrastruktur und der Regierungsgebäude wird es für die Hamas nun noch schwieriger, im Gazastreifen zu regieren.

Auf der anderen Seite ist auch die Palästinenserbehörde geschwächt – sie, die im Westjordanland mit aller Härte gegen Pro-Hamas-Demonstrationen vorging und zudem mit israelischen Sicherheitsdiensten zusammenarbeitete. Dies führte in den letzten Wochen zur Festnahme von mehreren Dutzend Anhängern der Hamas.

swissinfo: Ist in Israel die «heilige Union» immer noch wirksam und sind die Akteure dieser Offensive nun in einer besseren Ausgangslage für die nächste Wahlen?

P. de C.: Die Wahlchancen des Verteidigungsministers Ehud Barak wie auch der Aussenministerin Tzipi Livni sind laut Umfragen beträchtlich gestiegen.

Doch auch ihr Gegenspieler der Likud-Partei, Benjamin Netanyahu, kann von dieser Militäroperation profitieren, indem er auf das Schicksal des Soldaten Gilad Shalit aufmerksam macht, der immer noch in den Händen der Hamas ist.

swissinfo: Was zeichnet sich auf diplomatischer Ebene ab?

P. de C.: Im Moment geht es darum, den fragilen Waffenstillstand aufrechtzuerhalten und eine dauerhafte Waffenruhe zu erreichen. Die Diplomatie fokussiert auf zwei Ziele: der Raketenbeschuss von Israel muss mit einer Blockierung des Waffenschmuggels in den Gazastreifen unterbunden werden und die Grenzübergänge in den Gazastreifen sind zu öffnen.

Gefragt sind neue Regeln, die es erlauben, die Grenzen zwischen Ägypten und dem Gazastreifen für Personen und Güter zu öffnen, ohne dass Waffen geschmuggelt werden. Die Palästinenserbehörde würde die Grenzkontrolle am Gazastreifen übernehmen, unterstützt von Beobachtern der EU und israelischen Kameras. Zur Zeit werden verschiedene Optionen diskutiert, wie der Waffenschmuggel nach Gaza verhindert werden kann.

Für die Präsenz von internationalen Beobachtern und die Rückkehr der Palästinenserbehörde in den Gazastreifen braucht es jedoch noch die Zustimmung der Hamas. Mit der Resolution 1860, die der Sicherheitsrat vor zwei Wochen verabschiedete, soll durch die Integration der Hamas in die Palästinenserbehörde eine Versöhnung zwischen den verfeindeten palästinensischen Brüdern angestrebt werden.

Für die Hamas wäre dies ein Sieg, denn so könnte sie die Öffnung des Gazastreifens und ihre Reintegration innerhalb der Palästinenserbehörde verlangen. Eine Perspektive, die die Hamas allerdings verpflichten würde, von ihren radikalen Positionen abzuweichen.

Wird dieser Plan realisiert, dann rückt eine Lösung des Nahostkonflikts wieder in den Bereich des Möglichen.

swissinfo: Werden nun mit Barack Obama die Karten neu gemischt?

P. de C.: Bislang hielt sich der neue amerikanische Präsident in dieser Frage bedeckt. Kürzlich nun erklärte er, dass die Wiederaufnahme der Verhandlungen und die Beilegung des Nahostkonfliktes für ihn Priorität habe und dass er sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit damit beschäftigen werde.

Erinnern wir uns, dass der Ehemann seiner neuen Aussenministerin (Hillary Clinton) bereits früher eine Reihe guter Vorschläge zur Beilegung des Konfliktes eingebracht hatte.

swissinfo-Interview, Frédéric Burnand, Genf

Bei seinem Besuch in Gaza besichtigte UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon ein Lagerhaus der UNRWA, das am 15. Januar von einer israelischen Bombe zerstört wurde. Er erklärte, dass die Verantwortlichen des Angriffs sich vor dem Gesetz verantworten müssten.

Der UNO-Generalsekretär bezeichnete die Bombardierungen als «skandalöse und völlig inakzeptable Angriffe».

«Es braucht eine gründliche Untersuchung und eine gewissenhafte Klärung, damit so etwas nie wieder vorkommt», fügte Ban Ki Moon hinzu.

swissinfo.ch

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