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«Wir haben Ausserrhoden von der Rückständigkeit befreit»

Historischer Tag: Am 30. April 1989 sagen die Männer Appenzell Ausserrhodens Ja zum Frauenstimmrecht. Keystone

Erst zwei Jahrzehnte sind es her, seit die Männer im Kanton Appenzell Ausserrhoden 1989 ihren Frauen das Stimmrecht zugestanden. Die Gleichstellung löste eine rasante Entwicklung aus, sagt Marianne Kleiner, die 1997 erste Frau Landammann wurde.

1994 wurde Marianne Kleiner Regierungsrätin und 1997 zur ersten Frau Landammann (Präsidentin der Kantonsregierung) gewählt. Ein Rückblick mit der freisinnigen Politikerin, die ihren Halbkanton heute im Nationalrat vertritt.

swissinfo: Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass die Ausserrhoder das Frauenstimmrecht erst vor 20 Jahren eingeführt haben. Mit welchen Argumenten hatten die Appenzeller die Gleichstellung bis 1989 abgeschmettert?

Marianne Kleiner: Für viele Männer war eine Landsgemeinde mit Frauen schlicht nicht vorstellbar. Die Landsgemeinde war ein strenges, feierliches, fast gottesdienst-ähnliches Ritual. Dieses würde durch die Teilnahme der Frauen zu stark modernisiert, so die Befürchtung.

Uns Frauen hat insbesondere das Argument gestört, dass die Teilnahme der Frauen die Würde der Landsgemeinde stören würde. Das konnten wir überhaupt nicht akzeptieren.

swissinfo: Mit ihrer Haltung galten die Appenzeller lange Zeit als urdemokratisches Kuriosum, dann aber zunehmend als eine Art Schandfleck der Schweizer Demokratie. War dieser Image-Schaden dem Appenzeller egal?

M.K.: Vielen ja. Es hat ihnen Freude gemacht, sie haben sich als besonders mutig und resistent gefühlt. Es ist zudem eine appenzellische Eigenart, dass man zu trotzen beginnt, wenn der Druck zu gross wird.

Aber es gab auch viele Appenzeller Männer, die sich für diese Rückständigkeit schämten und sich sehr für die Gleichstellung einsetzten.

Nach Einführung des Frauenstimmrechts machte der Kanton dann aber sehr rasch vorwärts: Nur vier Jahre danach war Ausserrhoden der erste Kanton mit zwei Frauen in der Regierung. Das war eine kleine Sensation. Damit hat Appenzell Ausserrhoden den Schatten als frauenfeindlicher Kanton ablegen können.

swissinfo: Wie zeigte sich der Graben zwischen den Lagern im kleinräumigen Appenzell?

M.K.: Viele Männer, die für das Frauenstimmrecht waren, hatten schon sehr Mühe mit der Haltung der Gegenseite. Mein Mann beispielsweise nahm nur noch an der Landsgemeinde teil, wenn es um das Frauenstimmrecht ging.

Bei uns ist es aber nicht so, dass man aufgrund verschiedener politischer Ansichten nicht mehr miteinander sprechen würde.

swissinfo: Aus Zorn über die Annahme des Frauenstimmrechts schafften die Gegner dann die Landsgemeinde ab. Gibt es noch andere Folgen dieses Grabens, die bis heute spürbar sind?

M.K.: Die Landsgemeinde wurde nicht wegen der Einführung des Frauenstimmrechts abgeschafft. Vielmehr aus Wut über den Notverkauf der Kantonalbank an die UBS und darüber, dass man die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft ziehen konnte.

Immer lauter wurde auch die Kritik, dass die Landsgemeinde juristischen Erfordernissen nicht mehr genüge, weil nicht alle teilnehmen können und die Stimmabgabe nicht geheim erfolge.

swissinfo: 1997 leiteten Sie als erste Frau Landammann eine Landsgemeinde. Gab es negative Reaktionen?

M.K.: Nein. Wenn der Appenzeller zu etwas Ja sagt, dann gilt das auch.

swissinfo: Wurden Sie ernst genommen zu Beginn Ihrer politischen Karriere? Oder mit anderen Worten: Braucht eine Politikerin in Appenzell eine dickere Haut als anderswo?

M.K.: Appenzell Ausserrhoden war der erste Kanton, wo eine Frau Landammann vom Volk gewählt wurde, deshalb war ich akzeptiert.

Ich fühlte mich weder als Regierungsrätin noch als Frau Landammann je benachteiligt. Im Gegenteil: Viele haben mir sehr geholfen, weil sie wussten, dass dies eine erstmalige Situation war und dies auch als Chance begriffen. Ich hatte in beiden Funktionen eine sehr gute Zeit.

swissinfo: Sind die Ausserrhoder heute in der modernen Demokratie angekommen?

M.K.: Das sind sie wirklich. 1994 wurden zwei Frauen in die Regierung gewählt, es gab ebenfalls schon einige Frauen im Kantonsparlament.

1994 war wie ein Dammbruch: Während einiger Zeit hatten wir gar mit Genf den grössten Frauenanteil in einem Kantonsparlament. Die Zahlen sind zwar wieder etwas zurückgegangen, aber der Frauenanteil ist immer noch ein Drittel. In der Regierung hatten wir immer mindestens eine Frau. Aber auch in den Kommissionen und Gemeinderäten politisieren sehr viele Frauen. Klar gibt es auch bei uns Frauenfeindlichkeit, wie überall auf der Welt, aber nicht mehr, sondern eher weniger.

swissinfo: Was konnten Sie und Ihre Kolleginnen dem Kanton bringen?

M.K.: Wir haben den Kanton vom Schatten der Rückständigkeit befreien können. Das Ziel von meiner Kollegin und mir als Regierungsrätinnen war es, die politische Tätigkeit von Frauen als normal und selbstverständlich erscheinen zu lassen.

Für mich gibt es keine weibliche Politik im engeren Sinne. Aber Frauen sehen die Welt mit anderen Augen, wir haben ein anderes Leben und machen andere Lernerfahrungen. Wir denken und handeln in gewissen Dingen anders als Männer.

Ich glaube, dass es uns gelungen ist, dies einzubringen. In der Appenzeller Politik ist eine Frau heute absolut normal. Man schaut nicht mehr, ob es ein Mann oder eine Frau ist, der oder die ein Amt versieht.

swissinfo-Interview, Renat Künzi

Die Gleichstellung von Frau und Mann wurde 1981 in der Bundesverfassung festgeschrieben.
Das Gleichstellungsgesetz (Bundesgesetz über die Gleichstellung von Mann und Frau) ist seit 1996 in Kraft.
Die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen wurde 1976 ins Leben gerufen.
Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann wurde 1988 vom Bundesrat eingesetzt.
Am 14. Juni 1991 kam es zum landesweiten Frauenstreiktag.

Das erste feministische Bündnis, das zivile Rechte und das Recht auf den Zutritt der Frauen zu Universitäten forderte, wurde 1868 gegründet. Es gab auch Stimmen, welche das Frauenstimmrecht bereits in der Verfassung von 1874 festhalten wollten.

1929 forderten 250’000 Schweizerinnen und Schweizer in einer Petition erfolglos die Einführung des Frauenstimmrechts.

1957 führte die kleine Gemeinde Unterbäch im Kanton Wallis das Frauenstimmrecht ein. Diesem Beispiel folgten schliesslich weitere Gemeinden und auch Kantone. In den 1960er-Jahren waren deshalb immer häufiger Frauen in kantonalen und kommunalen Parlamenten und Regierungen anzutreffen.

Am 7. Februar 1971 war es endlich so weit: Die Schweizer Männer sagten mit Zweidrittelsmehrheit Ja zum Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene.

1989: Appenzell Ausserrhoden führt als zweitletzter Kanton das Frauenstimmrecht ein. Letzter Stand war Appenzell Innerrhoden, der 1990 vom Bund dazu gezwungen worden war.

1990 findet die erste Ausserrhodener Landsgemeinde mit Frauen statt.

1994 wählt die Landsgemeinde mit Marianne Kleiner und Alice Scherrer als erster Kanton der Schweiz zwei Frauen in die Regierung.

1997 wird Marianne Kleiner als erste Frau Landammann vom Volk an die Spitze der Kantonsregierung gewählt. Sie setzt sich gegen fünf männliche Mitbewerber durch, die trotz Bisherigen-Bonus unterlagen.

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