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«Wir haben keine Animosität der Schweiz gegenüber»

Sliman Bouchuiguir schaut in die Zukunft. swissinfo.ch

"Dieses Kapitel ist abgeschlossen", erklärt der neue Botschafter Libyens in der Schweiz im Zusammenhang mit der Krise zwischen den beiden Ländern, die von der Festnahme von Hannibal Gaddafi 2008 in Genf ausgelöst worden war. Ein Exklusiv-Interview.

In seinem ersten Interview mit einem Schweizer Medienunternehmen erklärt Sliman Bouchuiguir, die libysche Seite würde es begrüssen, wenn Schweizer Unternehmen ihren Teil zum Aufbau des Landes beitragen würden.

Bouchuiguir war Generalsekretär der Libyschen Menschenrechts-Liga und hat einen Schweizer Pass. Am 29. September hatte er Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey in Bern sein Beglaubigungs-Schreiben überreicht.

Bei einem Treffen mit swissinfo.ch auf der libyschen Botschaft in Bern sprach Bouchuiguir unter anderem über eingefrorene libysche Guthaben in der Schweiz, über den Wunsch von Schweizer Firmen, nach Tripolis zurückzukehren, sowie über deren Aussichten, sich am Wiederaufbau-Prozess zu beteiligen.

swissinfo.ch: Sie wurden zum ersten Botschafter des befreiten Libyen in der Schweiz ernannt, eine Verlagerung vom Verteidiger der Menschenrechte zum Diplomaten, der die Regierung vertritt. Was ist das für ein Gefühl?

Sliman Bouchuiguir: Es ist irgendwie ein merkwürdiges Gefühl. Bisher standen wir immer auf Seite der Opposition, da wir leider keine demokratische Herrschaft hatten. Und jetzt finde ich mich in den Rängen der Regierung und muss verteidigen, was der Staat macht. Aber, so Gott will, wird es uns gelingen, das neue System in eine wirkliche Demokratie zu überführen.

swissinfo.ch: Sind Sie überzeugt, dass das neue System sich in diese Richtung entwickeln wird?

S. B.: Ja, ich glaube daran, dass die neue politische Führung es mit ihrer demokratischen Richtung ehrlich meint, vor allem Mustafa Abd-al Dschalil (Chef des Übergangsrats) und Mahmud Dschibril (Regierungschef des Übergangsrats).

Aber Ehrlichkeit alleine reicht nicht. Um die Grundlage für weiteren Fortschritt zu schaffen und auf dem Weg zur Demokratie und der Achtung der Menschenrechte voranzukommen, braucht es viel Einsatz.

Die Umrisse der Demokratie sind in der Interims-Verfassung festgehalten, aufgrund derer das Land in den nächsten zwei Jahren regiert wird.

Nach 18 Monaten werden wir freie und faire Wahlen abhalten, und Libyen wird sein erstes Parlament erhalten. Dieses Parlament wird eine Regierung ernennen, die sich vor dem Parlament wird verantworten müssen. Wir bewegen uns in die richtige Richtung, doch wir müssen daran arbeiten, diese Regeln gesetzlich und im täglichen Leben zu verankern.

swissinfo.ch: Kann der Antritt Ihrer Stelle in Bern im Kontext mit einer Normalisierung der Beziehungen zwischen der Schweiz und Libyen gesehen werden, die sich wegen der Festnahme von Muammar Gaddafis Sohn Hannibal verschlechtert hatten?

S.B.: Wir freuen uns auf eine Verbesserung der Beziehungen. Wir haben gegenüber der Schweiz keinerlei Animosität und nichts gegen die Schweizer Regierung.

Die Schweizer können uns in verschiedenen Bereichen helfen. Es ist ja in ihrem Interesse und im Interesse der internationalen Gemeinschaft, dass Libyen ein demokratischer Staat wird, der die Rechte respektiert, die Freiheiten verteidigt und ein wesentlicher Teil der internationalen Gemeinschaft wird.

swissinfo.ch: Kann man sagen, dass das Kapitel Hannibal abgeschlossen ist und die Lage zwischen den beiden Ländern zur Normalität zurückgekehrt ist?

S.B.: Aufgrund von Gesprächen mit der neuen libyschen Führung, die diese schwarze Zeit nicht erwähnen will und erklärt, es sei nur eine vorübergehende Phase in den Beziehungen gewesen, ist klar geworden, dass dieses Kapitel abgeschlossen ist. Und Sie wissen ja, dass die Schweiz auch einen neuen Botschafter für Tripolis ernannt hat (Michel Gottret).

Und wie Sie wissen, haben wir jetzt auch Schweizer Zweige der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Misrata und Bengasi. Und in den kommenden Tagen werden einige Patienten zur Behandlung in die Schweiz kommen. Wir haben Vereinbarungen unterzeichnet mit dem Kantonsspital Genf und bemühen uns um Vereinbarungen mit dem Waadtländer Kantonsspital in Lausanne sowie dem Berner Universitätsspital, dem Inselspital.

Ich denke, die Spitäler werden Schwerverletzte behandeln, die aus Tunesien kommen, wo man sich in Spitälern nicht um sie kümmern konnte. Ärzte in Tunesien haben uns gebeten, diese Verletzten in Spitäler mit modernen Ausrüstungen zu verlegen, wie eben Spitäler in der Schweiz.

swissinfo.ch: Und wie sieht es mit den Schweizer Unternehmen aus, die wegen der Hannibal-Krise ihre Geschäfte einstellen mussten? Sind diese Firmen schon wieder zurückgekehrt oder planen eine Rückkehr?

S.B.: Wir sind dabei, den Kontakt zu Schweizer Handelskammern anzukurbeln, vor allem in Lausanne, Zürich und Genf. Das Hauptproblem ist, dass wir einen Fahrplan für den Wiederaufbau brauchen. Und die Handelskammern erklären, es wäre einfacher, wenn sie einen Entwurf dieses Plans hätten, um diesen an Firmen zu verteilen und ihren Anteil dazu zu erbringen.

Wir messen aus unserer Sicht dem Anteil aus der Schweiz am Wiederaufbau-Prozess grosse Bedeutung bei.

swissinfo.ch: Hat Libyen Gebiete präzisiert, in denen Schweizer Firmen eine Rolle spielen könnten? Und gibt es Schätzungen zu den Kosten des Wiederaufbaus?

S.B.: Die Vorbereitungen zur Ausarbeitung eines präzisen Plans sind im Gange. Die Fachleute, die sich damit befassen, könnten dabei auf die ausgewiesene Kompetenz der Schweiz in Sachen Evaluation und Planung angewiesen sein.

Nach Angaben des Regierungschefs werden die Wiederaufbaukosten auf 500 bis 700 Milliarden Dollar geschätzt, ein Betrag, den Libyen nicht selber aufbringen kann. Auch daher braucht es die Mitwirkung ausländischer Firmen, um die Wirtschaftslage so rasch als möglich wieder zu verbessern.

Schweizer könnten in der Tat in verschiedenen Sektoren einen Beitrag leisten, man denke etwa an ihre Fachkenntnisse in den Bereichen Entwicklung und Technologien, die zu einer nachhaltigen Entwicklung führen, aber auch beim Bau von Infrastrukturbereichen wie Strassen, Strom, Kommunikation und anderem mehr.

Schweizer Firmen sind bekannt für die hohe Qualität ihrer Arbeit im Technologie- und Dienstleistungsbereich.

Einer der amtierenden libyschen Minister sagte, möglicherweise könnten die Schweizer einen Beitrag zur Revitalisierung des Tourismus- und Hotelsektors leisten. Ich hoffe persönlich, dass die Schweizer sich dem Tourismus-Sektor annehmen werden, da sie über viel Erfahrung verfügen und der Tourismus in der Schweiz nicht nur saisonal ist, sondern ganzjährig. Also, unser Land ist offen, und es gibt Potential, von dem beide Seiten profitieren können.

swissinfo.ch: Ein Bereich, der für die libysche Seite gelöst werden muss, ist die Freigabe eingefrorener Vermögenswerte auf Banken in der Schweiz. Haben Sie eine Ahnung, um wie viel es sich handeln könnte, und wo man bei den Gesprächen um die Freigabe steht?

S.B.: Es gibt zwei Varianten eingefrorener Guthaben: Es gibt jene, die dem libyschen Staat gehören. Diese stellen die Schweizer Regierung vor keine Probleme. Wir wurden informiert, dass es um Vermögenswerte von rund 760 Millionen Dollar geht. Diese Guthaben liegen nun bei der Schweizerischen Nationalbank. Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey hatte bei der Libyen-Konferenz in Paris am 1. September erklärt, die Schweiz sei bereit, 380 Millionen Dollar sofort freizugeben.

Jetzt warten wir auf einen Termin mit der Nationalbank, um festzulegen, wie die Ankündigung der Präsidentin umgesetzt werden kann. Über die restlichen Guthaben werden wir später reden.

Daneben gibt es die Vermögenswerte, die Personen aus dem nahen Umfeld von Gaddafi und seiner Familie gehören. Niemand kann eine Einschätzung geben, um welche Summen es sich handelt. Die Schweizer Regierung hat aber erklärt, dass sie bei der Suche nach diesen Guthaben Rechtshilfe leisten könnte.

Nach seiner Entlassung von der Wirtschafts- und Handelsfakultät der Universität in Bengasi im April 1976 hatte Sliman Bouchuiguir Libyen verlassen, nachdem er und zehn seiner Kollegen von der «Revolutionären Vorhut», die von Abd-al-Salam Dschallud angeführt wurden, bedroht worden waren.

Bouchuiguir stiess danach zur UNO in New York, wo er zwischen 1978 und 2003 verschiedene Posten inne hatte, darunter bei der UNO-Friedensmission in Kambodscha, der Expertenkommission der UNO am Nordkap in Südafrika sowie bei der Expertenkommission, welche die Wahlen im Südosten Haitis überwachte, die Präsident Aristide 1995 gewann.

 

1974 war Bouchuiguir an der Gründung der Liga libyscher Studenten in Washington beteiligt, die später die Vereinigung libyscher Studenten in Amerika aufbaute.

Im Januar 1976 nahm er an der Erstürmung der libyschen Botschaft in Washington teil und organisierte ein Sit-in. Mit der Aktion setzten die Beteiligten nach einem Aufstand in Bengasi ein Zeichen der Solidarität mit den dortigen Studenten.

Im Juli 1976 konfiszierten die Behörden seinen Pass und verhinderten somit weitere Reisen ins Ausland. Gleich war es einer Reihe seiner Kollegen ergangen. Sie alle wurden von den Behörden als «Anstifter, die eine Front gegen die grosse September-Revolution schaffen wollen», gebrandmarkt.

Im November 1980 war Bouchuiguir an der Gründung der oppositionellen Libyschen Nationalen Demokratischen Front beteiligt.

Im März 1989 trug er mit 157 weiteren Personen zur Gründung der Libyschen Menschenrechts-Liga bei.

Am 25. Februar 2011 sprach Bouchuiguir im Namen der Liga vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf. Während dieser Session fiel der Entscheid, die Mitgliedschaft des Gaddafi-Regimes im Rat zu suspendieren.

Erste Schweizer Handelsleute haben sich Ende des 19. Jahrhunderts in Libyen niedergelassen.

Gleich nach der Erklärung der Unabhängigkeit Libyens 1951 anerkannte die Schweiz den neuen Staat. Die Entwicklung der libyischen Erdölindustrie zog danach vermehrt Schweizer Geologen, Techniker und andere Experten in das nordafrikanische Land.

Ab 1962 wurden die Schweizer Interessen in Libyen durch die Schweizer Botschaft in Tunis wahrgenommen. 1965 wurde in der libyschen Hauptstadt Tripolis ein Konsulat eröffnet, 1968 eine Botschaft.

Die vorübergehende Festnahme von Hannibal Gaddafi im Juli 2008 führte zu politischen Spannungen zwischen Libyen und der Schweiz. Libyens Behörden reagierten mit Massnahmen gegen Schweizer Bürger und Unternehmen in Libyen.

Am 23. Februar 2010 konnte einer von zwei Schweizern, die in Libyen zurückgehalten worden waren, das Land verlassen und in die Schweiz zurückkehren. Der zweite Schweizer, wegen Visaverstössen zu vier Monaten Haft verurteilt, wurde am 13. Juli 2010 freigelassen und kehrte sogleich in die Schweiz zurück.

(Adaption aus dem Arabischen und Übertragung aus dem Englischen: Muhammad Shokry und Rita Emch)

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