«Wir sind bereits Schengen-kompatibel»
Gut 200 Kilometer Grenze trennen das Tessin von Italien. Täglich überqueren Tausende von Fahrzeugen die Grenzübergänge zwischen den beiden Ländern. Und die Mobilität nimmt zu. Entsprechend gross ist die Aufgabe für das Grenzwachtkorps IV mit Sitz in Lugano.
Dies bedeutet viel Arbeit für das Grenzwachkorps: Kontrolle des Schwerverkehrs, Drogen, Geldschmuggel. Jeden Tag wird versucht, Ware illegal von der einen auf die andere Seite zu bringen.
Mauro Antonini, Kommandant der Zollkreisdirektion IV, erläutert im Gespräch mit swissinfo, was der Beitritt zum Schengen-Raum für sein Korps bedeutet.
swissinfo: Wie wird der Beitritt zum Schengen-Raum im Tessin erlebt? Ist der «Wegfall der Grenzen» eine Bedrohung für die Sicherheit, wie viele Tessiner befürchten?
Mauro Antonini: Es ist ganz natürlich, dass in der Bevölkerung bestimmte Fragen aufkommen. Und es ist klar, dass der Beitritt der Schweiz zum Schengen-Raum Veränderungen an der Grenze mit sich bringt.
Doch wir bereiten uns schon lange auf diese Veränderungen vor. Und ich möchte die Bevölkerung beruhigen, denn die Grenzwächter werden nicht abgeschafft. Sie werden weiter im Grenzraum aktiv sein, aber Aufgaben übernehmen, die mehr Mobilität erfordern.
Wir werden uns nicht mehr auf die systematische Personenkontrolle konzentrieren, sondern auf die Zollkontrolle. Da die Schweiz nicht zur Europäischen Zollunion gehört, hat sie die Pflicht, Kontrollen bei der Einreise in die Eidgenossenschaft zu machen. Und es ist klar, dass die Grenzwächter im Bedarfsfall jederzeit bereit zum Eingreifen sind.
swissinfo: Wie haben sich die Grenzwächter im Tessin auf diesen Schwebezustand zwischen Öffnung der Grenzen und weiteren Zollkontrollen vorbereitet?
M.A.: Die Grenzwächter sind heute schon Schengen-kompatibel. Traditionell waren sie auf die Grenzübergänge konzentriert. Das war ihre historische Aufgabe. Der Einsatz als mobile Truppe bringt einen radikalen Kulturwandel mit sich.
Natürlich erfordert dieser dynamischere Einsatz eine ständige Koordination mit der Kantonspolizei. Wir haben mit der Polizei eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen, welche die Rollen und Zuständigkeiten klärt.
swissinfo: Wie wichtig ist diese Kultur der Zusammenarbeit?
M.A.: Die linke Hand muss stets wissen, was die rechte Hand macht. Synergien zu nutzen und die Ressourcen optimal einzusetzen, ist entscheidend für den Erfolg der Zusammenarbeit. Polizei und Grenzwache haben unterschiedliche Aufgaben; gerade deshalb ist eine optimale Kommunikation und die Koordination zwischen diesen beiden Korps so wichtig.
Meine eigene berufliche Laufbahn erleichtert mir diese Aufgabe. Ich habe 12 Jahre im Militär gearbeitet, inklusive ein Praktikum von 6 Monaten in Algerien. Zudem war ich in der Tessiner Kantonspolizei aktiv. Ich bin es gewohnt, Synergien aufzubauen.
Die gute Zusammenarbeit mit der Kantonspolizei hat zur Projektidee geführt, nach dem Vorbild von Chur einen einzigen Sitz für Polizei und Grenzwacht im Tessin zu schaffen. Das würde die Zusammenarbeit und den Einsatz der Beamten natürlich sehr erleichtern.
swissinfo: Die Schweiz liegt im Herzen Europas und ist somit ein wichtiges Transitland für Migranten. Aus dem Süden, über Italien und vor allem die Insel Lampedusa, drängen viele Flüchtlinge nach Europa. Ist das Tessin auf dieses Problem vorbereitet?
M.A.: Wenn sie mit Personen zu tun haben, die über die Grenze drängen, ist es nie einfach: Da verflechten sich legale und menschliche Aspekte mit Sicherheitsproblemen. Es ist schwierig, sich allgemein vorzubereiten, denn jede Situation und jedes Individuum ist anders. Ein Grenzwächter muss aber erkennen, ob er vor einer verzweifelten, aber ungefährlichen Person steht, oder vor einer verzweifelten, aber potentiell gefährlichen Person.
Auch angesichts einer ganzen Flüchtlingsfamilie muss ein Grenzwächter ruhig Blut bewahren können und die Situation möglichst sachlich einschätzen. Es braucht Ruhe und gleichzeitig Entschlossenheit. Da gibt es keine allgemein gültigen Rezepte, aber die Erfahrung im Dienst hilft sehr.
Ganz generell gilt es festzuhalten, dass das Thema Migration globale Dimensionen aufweist und sehr komplex ist. Das führt weit über die Schweiz und das kleine Tessin hinaus. Wir wissen, dass die Entscheidungen auf internationaler Ebene getroffen werden und sich die Lebensbedingungen in den Ländern verbessern müssen, von denen heute Tausende Flüchtlinge aufbrechen.
swissinfo: Wie gut läuft die Zusammenarbeit mit den italienischen Sicherheitskräften?
M.A.: Ich kann bestätigen, dass wir ein Treffen hatten. Wir haben alle Probleme in Zusammenhang mit dem Schengen-Raum und den jeweiligen Bedürfnissen der involvierten Institutionen erörtert. Nach dieser ersten Phase gibt es nun eine Basis für eine aktive Zusammenarbeit mit Italien.
swissinfo-Interview, Françoise Gehring, Lugano
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Die Schweiz grenzt im Süden an Italien und befindet dort in einer aussergewöhnlichen geo-politischen Situation. Das Tessin als südlichster Kanton (320’000 Einwohner) ragt wie ein Stachel nach Italien. Im einem Streifen von 60 Kilometern leben zirka 6 Millionen Menschen jenseits der Grenze in Italien..
Das Tessin hat 22 Grenzübergänge mit Italien. Die grössten befinden sich in Chiasso und Stabio. Pro Tag überqueren zirka 150’000 Fahrzeuge, 4000 Lastwagen und 7500 Fussgänger die Grenze zwischen dem Tessin und Italien..
Nur drei Grenzübergänge nach Italien sind rund um die Uhr geöffnet. Como-Brogeda (Autobahn), Ponte Chiasso und Stabio-Gaggiolo.
An anderen Übergängen wie Novazzano oder Camedo (Centovalli) sind die Öffnungszeiten eingeschränkt. Eine Reihe von Grenzübergängen werden gar nicht mehr oder nur stichprobenweise bewacht, darunter Muggio, San Pietro di Stabio und Miglielia.
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