«Wir wollen in der Schweiz keine Scharia»
Während sich Menschenrechtler und feministische Musliminnen weltweit für die Abschaffung des islamischen Rechts engagieren, ist in der Schweiz die Idee lanciert worden, Elemente der Scharia für muslimische Einwanderer einzuführen.
Die Situation in der Schweiz mutet im europäischen Vergleich paradox und anachronistisch an. In der Debatte um die Integration von muslimischen Einwanderern warnen säkulare Muslime in Deutschland, Grossbritannien und den Niederlanden vor der Bildung von Parallelgesellschaften.
Und ausgerechnet in der Schweiz, wo die Mehrheit der Muslime gut integriert ist, fordert ein Schweizer Sozialanthropologe die teilweise Einführung des islamischen Rechts, weil das Schweizer Rechtssystem den kulturell bedingten Bedürfnissen vieler Muslime nicht genüge und parallele Rechtssysteme ohnehin bestünden – allerdings im Verborgenen.
Der kurze Text von Christian Giordano, «Rechtspluralismus: ein Instrument für den Multikulturalismus?», in der Zeitschrift der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKG) hat kontroverse Reaktionen provoziert.
Giordano beruft sich darin auf den Erzbischof von Canterbury, der dafür plädiert hat, Elemente des islamischen Rechts ins britische Gewohnheitsrecht zu integrieren.
Unter Rechtspluralismus werden verschiedene parallel bestehende Rechtssysteme verstanden. Ziel ist die Anerkennung der kulturellen Vielfalt und der unterschiedlichen Ansprüche von Personen anderer Kulturen an das Recht.
Die Grenzen des Schweizer Rechts
Unterstützung erhält der Freiburger Professor von Vertretern islamischer Gruppen. Farhad Afshar, Präsident der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz, sagt gegenüber swissinfo: «Angesichts der transnationalen Probleme muss auch das Rechtssystem flexibel werden.»
Das Schweizer Rechtssystem solle zwar immer noch oberste Priorität haben, aber bei religiösen Fragen von muslimischen Einwanderern genüge es oft nicht. Afshar nennt als Beispiel die Debatte um den obligatorischen Schwimmunterricht auch für muslimische Schülerinnen und Schüler.
Für ihn geht es dabei nicht um Integration, sondern um Religionsfreiheit: «Es kann nicht Aufgabe der Schule sein, gesamtgesellschaftliche Anliegen gegen eine Religionsgemeinschaft durchzusetzen.»
Doch längst nicht alle Muslime denken wie Afshar. Elham Manea, Schweizer Politikwissenschafterin muslimischen Glaubens, vertritt eine ganz andere Position.
«Mit Sonderrechten schafft man nur Sonder-Ungerechtigkeit», sagt sie gegenüber swissinfo. Sie glaube nicht, dass Muslime mit dem Schweizer Rechtssystem Probleme hätten, im Gegenteil: «Sie vertrauen diesem System mehr als dem islamischen, denn es schützt ihre Rechte besser.»
Gleichstellung nur auf spiritueller Ebene
Elham Manea hält die Mehrheit der Muslime in der Schweiz für gut integriert. Aber sie warnt vor parallelen Rechten: «Dies kann zur Bildung von Parallelgesellschaften führen und ist das Gegenteil von Integration.»
Während Farhad Afshar sagt, dass die Frauen im islamischen Recht den Männern gleichgestellt seien, dieses Recht aber nicht leicht gegen patriarchalische Gesellschaftsstrukturen durchzusetzen sei, differenziert Elham Manea: «Die Gleichstellung gilt nur auf spiritueller Ebene. Im islamischen Familienrecht ist die Frau dem Mann klar unterstellt.»
Nach den heute üblichen Interpretationen des islamischen Rechts dürfe eine Frau nur mit Zustimmung ihres männlichen Vormunds heiraten. «Wenn man in der Schweiz islamische Sondergerichte zuliesse, würden damit solche patriarchalische Strukturen und damit auch Zwangsheiraten legitimiert», sagt Manea.
Menschenrechte sind universal
Das islamische Rechtssystem leitet sich aus dem Koran und den überlieferten Aussprüchen des Propheten Mohammed ab. Es stammt aus dem 7. Jahrhundert und regelt in den meisten arabischen Staaten, ausser Tunesien, das Familienrecht, also Eheschliessung, Scheidung und Erbschaft.
In verschiedenen Ländern kann die Scharia durch zivile Verträge ergänzt werden. Darin kann im Fall einer Heirat festgehalten werden, dass die Frau auch ohne explizite Erlaubnis des Ehemannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ins Ausland reisen und sich scheiden lassen darf.
Die Scharia sei nicht mit den universalen Menschenrechten und dem Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter vereinbar, sagt die Politikwissenschafterin dezidiert, und diese seien nicht verhandelbar. Ihr Fazit: «Wir wollen in der Schweiz keine Scharia.»
Sie ist empört über Exponenten muslimischer Organisationen in der Schweiz, die unterstellen, das Schweizer Rechtssystem sei nicht mit dem muslimischen Glauben kompatibel.
Im Gegensatz zur niederländischen Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali lehnt Elham Manea den Islam nicht ab, sondern plädiert für dessen Reformierung: «Die Scharia ist fast 1400 Jahre alt und muss an die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft angepasst werden.»
swissinfo, Susanne Schanda
Die prominenteste Islamkritikerin ist die aus Somalia stammende Niederländerin Ayaan Hirsi Ali. Nach der Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh durch einen fanatischen Muslim wurde Hirsi Ali, die an van Goghs Film «Submission» über Frauenunterdrückung im Islam mitgearbeitet hat, mit dem Tod bedroht.
In zahlreichen Büchern kritisiert sie den Islam als frauenverachtend («Ich klage an», «Mein Leben, meine Freiheit»). Den Islamismus bezeichnet sie als neue totalitäre Bedrohung.
Weniger radikal ist die ebenfalls in den Niederlanden lebende gebürtige Ägypterin Nahed Selim. In ihrem Buch «Nehmt den Männern den Koran» plädiert sie für eine feministische Interpretation des heiligen Buches.
Die türkisch-deutsche Islamkritikerin Necla Kelek engagiert sich für die Integration muslimischer Einwanderer in Deutschland. In ihren Büchern «Die fremde Braut», «Die verlorenen Söhne» und «Bittersüsse Heimat» kritisiert sie muslimische Parallelgesellschaften und Zwangsheiraten.
Elham Manea ist Schweizerin muslimischen Glaubens und kommt aus Jemen. Sie lehrt Politikwissenschaft an der Universität Zürich und tritt für ein fortschrittliches Verständnis des Islam ein. Im März 2009 erscheint ihr Buch «Ich will nicht mehr schweigen. Der Islam, der Westen und die Menschenrechte».
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