Wird die Schweiz zum Feudalstaat?
In der Schweiz besitzen 10% der Wohnbevölkerung 71% aller Vermögenswerte. In Zürich besitzt 1% gleich viel wie 95% der Steuerpflichtigen. Alarmierend findet das der frühere Zürcher Statistik-Chef Hans Kissling im swissinfo-Gespräch.
In der Schweiz wächst das Kapital in den Händen weniger Familien rasant. Während die 300 Reichsten in den letzten acht Jahren um 40% reicher geworden sind, verfügt der grösste Teil der Bevölkerung über ein geringeres Einkommen als Anfang der 90er-Jahre.
Ein Trend, der nicht nur in der Schweiz zu beobachten ist. Renommierte Vermögensforscher behaupten gar, dass wir heute weltweit die grösste Reichtums-Verdichtung erleben.
Im Umstand, dass sich immer mehr Geld in den Händen von wenigen Superreichen konzentriert, ortet der ehemalige Chef des Statistischen Amtes des Kantons Zürich (1992-2006), der Ökonom Hans Kissling (65), eine Gefahr für die Demokratie und die Wirtschaft. Der Autor des Buches «Reichtum ohne Leistung. Die Feudalisierung der Schweiz» fordert deshalb eine nationale Erbschaftssteuer für Reiche.
swissinfo: Die Schweiz gilt weltweit als ein demokratischer, sozialer und föderalistischer Staat. Sie aber sagen in Ihrem Buch, dass die Schweiz auf dem Weg zu einem Feudalstaat ist.
Hans Kissling: Ich begründe das damit, dass die schweizerische Form der direkten Demokratie sehr anfällig ist für den Einfluss von Superreichen. Das Problem ist, dass wir die höchste Dichte an Superreichen haben. Wir haben zum Beispiel gleich viele Milliardäre, wie es in ganz Deutschland gibt.
Die Superreichen in der Schweiz nehmen zunehmend Einfluss auf Abstimmungen. Erstmals haben wir das 1992 mit dem EWR (Europäischer Wirtschafts-Raum) erlebt. Da hat ja der Milliardär Blocher einige Millionen investiert in den Abstimmungskampf. Der EWR ging bachab, und ich bin überzeugt, ohne die Blocher-Millionen wären wir heute im EWR.
swissinfo: Die Schweiz ein Feudalstaat – mit Ihrer These haben Sie bei Vermögenden und in bürgerlichen Kreisen für Unmut gesorgt: «Unsinn», «linke Parolen», «grotesk», lauteten einige Reaktionen. Wie gehen Sie persönlich mit dieser Kritik um?
H.K.: Trotz alledem fühle ich mich im Grossen und Ganzen fair behandelt. Die meisten Medien haben mir zum Beispiel abgekauft, dass ich eigentlich eine liberale Grundhaltung vertrete. Ich habe in meinem Buch immer wieder betont, dass ich für den Leistungswettbewerb bin, ich habe kein Problem, wenn jemand sehr reich wird durch eigene wirtschaftliche Leistung.
Es gab wenige andere Stimmen. Zum Beispiel die von Weltwoche-Chef Roger Köppel, der hat mir die liberale Grundhaltung abgesprochen. Ich habe auch sehr viele positive Zuschriften, Mails und Telefonate erhalten, sogar auch von bürgerlicher Seite.
swissinfo: In Ihrem Buch sagen Sie, die Konzentration von Vermögen bedrohe nicht nur die Demokratie, sondern auch die Wirtschaft. Können Sie das präzisieren?
H.K.: Wenn der Mittelstand und die unteren Schichten das Gefühl haben, dass der Abstand von ihnen zu den Reichsten immer grösser wird, dass sie quasi die Verlierer sind im marktwirtschaftlichen Leistungswettbewerb, dann bedroht das natürlich schon das System der Marktwirtschaft ganz direkt.
Die Leute werden dann kritisch gegenüber diesem System, und die Folge ist ganz klar, es kommt protektionistisches Denken auf. Man sieht das deutlich in den USA, dort hat der Mittelstand ganz gewaltig verloren. Jetzt liebäugeln beide Präsidentschaftskandidaten mit protektionistischen Massnahmen. Und das bedroht dann wirklich die Wirtschaft.
swissinfo: Sie fordern in Ihrem Buch eine Erbschaftssteuer für Reiche – eine Forderung, die namentlich in Zürich bei einer Volksabstimmung abgelehnt wurde. Würden da die Superreichen die Schweiz nicht verlassen?
H.K.: In Deutschland gibt es eine Erbschaftssteuer mit einem Höchstsatz von 40%. In Frankreich sind die Sätze noch höher. Eine «Fluchtgefahr» besteht also – zumindest in diese Länder – nicht.
Ich fordere in meinem Buch ja nur auf sehr hohe Erbschaften eine Steuer, ab einer Million, also nur für den überschiessenden Betrag. Ich möchte auf keinen Fall, dass Leute das Gefühl haben, sie könnten ihr Einfamilienhaus nicht der nächsten Generation weitergeben.
Es geht mir darum, dass die schleichende Feudalisierung gestoppt werden kann, dass da nicht riesige Clans entstehen, wie in Südamerika, und dann Wirtschaft und Politik bedrohen.
swissinfo: Der Schweizer Mittelstand laufe Gefahr zu verarmen, sagte jüngst der abtretende Caritas-Direktor Jürg Krummenacher. In der Schweiz würden die Reichen immer reicher. Und der Vermögensforscher Thomas Druyen behauptet gar, dass wir heute die weltweit grösste Reichtums-Verdichtung erleben. Fühlen Sie sich dadurch bestätigt?
H.K.: Ja eben, ich habe es schon gesagt, wir haben in der Schweiz die grösste Verdichtung an Milliardären.
Und zum Mittelstand: Ich habe nicht nur Indikatoren berechnet, in denen ich die Reichsten mit den Ärmsten verglichen habe. Ich habe auch die Reichsten mit dem Mittelstand verglichen. Und da kann ich Ihnen eine Zahl geben: Das reichste Promille im Kanton Zürich – es gibt leider keine gesamtschweizerischen Daten – hatte im Jahr 1991 677-mal mehr Vermögen als ein Durchschnittsbürger. Und 12 Jahre später, 2003, hatte das reichste Promille bereits 1027-mal mehr Vermögen. Also, die Schere zwischen oben und dem Mittelstand ist stark auseinander gegangen.
Ferner hat der Mittelstand, anders als die Unterschicht, nirgends irgendwelche Vergünstigungen. Ich denke da an Krankenkasse, Krippen- und Hortplätze sowie Alters- und Pflegeheime, wo der Mittelstand zuerst das ganze Vermögen aufbrauchen muss, bevor er unterstützt wird. Die Unterschicht hat da von Anfang an Unterstützung. Darum ist der Mittelstand durch diese Entwicklung direkt bedroht.
swissinfo-Interview: Jean-Michel Berthoud
1991 besassen die drei reichsten Haushalte im Kanton Zürich ein steuerbares Vermögen von 1,3 Mrd. Franken. 2003 waren es 4,5 Mrd. Franken.
Laut Bilanz verfügt allein Viktor Vekselberg über ein Bruttovermögen von 14 bis 15 Mrd. Franken. Er ist der reichste Einwohner des Kantons.
1991 wiesen die 100 Reichsten ein Vermögen von 9 Mrd. aus. 2003 waren es 21,2 Mrd. 27,1% aller Haushalte versteuerten gar kein Vermögen.
In den nächsten 30 Jahren erben 95’000 Personen je 1 bis 2 Mio. Franken. 50 Glückliche dürfen gar mit mehr als einer Mrd. Franken Erbteil rechnen.
Der Ökonom Hans Kissling (65), 1992 bis 2006 Chef des Statistischen Amtes des Kantons Zürich, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel «Reichtum ohne Leistung. Die Feudalisierung der Schweiz» (Verlag Rüegger Zürich).
Darin prangert er an, dass in den kommenden Jahren zahlreiche Leute allein durch Erbschaft in den Besitz von gewaltigen Vermögen kommen. Er postuliert, der Bund solle bei Erbschaften von über 2 Mio. Franken (oder bei Erbschaften von 1 Mio. pro Erbe) mindestens 50% abschöpfen.
Das Geld soll für die steuerliche Entlastung bei kleinen und mittleren Einkommen sowie für die Abschaffung der Vermögenssteuer eingesetzt werden.
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