«Zeichen des Parlaments als Glücksfall»
Mit der Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher setzt das Schweizer Parlament demagogischen Kräften Grenzen und stärkt die politische Moral. Das sagt der Historiker Hans-Ulrich Jost.
Im swissinfo-Interview bezeichnet Jost die Wahl als Glücksfall, der den Weg in eine «zivilisiertere Demokratie» weise. Vor der SVP in der Oppositionsrolle hat er keine Angst.
swissinfo: Ist der überraschende Austausch im Bundesrat gut für die Schweiz?
Hans-Ulrich Jost: Ja, davon bin ich überzeugt. Damit kommt es im politischen System der Schweiz wieder zu einem gewissen Ausgleich, insbesondere in Parlament und Regierung.
Möglicherweise wird auch die Verständnisbereitschaft der Beteiligten wieder grösser. Sollte die SVP in der Opposition einen Referendumssturm lostreten, wäre das nicht allzu schlimm. Wir haben solche Referendumsstürme schon des öftern überstanden.
swissinfo: Kann man von einem historischen Ereignis sprechen?
H.-U.J.: Es ist das vierte Mal, dass ein Bundesrat weggewählt wird, daher ist es eine Ausnahme. Hingegen ist schon oft vorgekommen, dass starke Opposition gegen Bundesräte im Amt aufkam, dass diese dann aus eigener Initiative zurückgetreten sind.
Der Austausch eines Vertreters in der Regierung gehört also trotz aller politischer Stabilität zum politischen System der Schweiz.
swissinfo: Wirkt sich dieser Eklat auf das Image der Schweiz im Ausland aus?
H.-U.J.: Nein, überhaupt nicht. Die meisten politischen Systeme im Ausland sind auf einen Wechsel der politischen Mehrheiten ausgerichtet: Über Vertrauensabstimmungen und Wahlen kann man die Vertreter in Parlament und Regierung ab und zu austauschen.
Vielmehr sieht das Ausland, dass es in der Schweiz doch noch demokratisch verantwortungsvolle Kräfte gibt, die gewissen Machtambitionen und einem gewissen demagogischen Stil Einhalt gebieten. Und so die Werte der Demokratie und den politischen Ausgleich des Landes bewahren.
swissinfo: Die grösste Partei der Schweiz geht in die Opposition. Beeinflusst dies die Aussenpolitik?
H.-U.J.: Die SVP ist zwar die grösste Partei, aber sie umfasst nicht 50 Prozent der Wählenden oder mehr, sondern nur 30 Prozent. 70 Prozent befinden sich im anderen Lager. Die jetzige Regierungskoalition hat also bei weitem noch eine Mehrheit hinter sich.
Es ist durchaus möglich, dass die SVP die Aussenpolitik über Referenden oder gar Initiativen zu stören versucht. Diese Instrumente sollten aber nicht überschätzt werden. Sie haben zwar Bremsfunktion, aber letztlich erreicht die Mehrheit des Parlaments ihre Ziele meist dennoch, mit anderen Massnahmen und Vorschlägen.
swissinfo: Bei der SVP zeichnet sich eine Spaltung ab. Ist das der Beginn einer Erosion, wie sie auch bei anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa einsetzte, so bei den Freiheitlichen von Haider in Österreich oder beim Front National Le Pen’s in Frankreich?
H.-U.J.: Das ist möglich. Die SVP könnte durch gewisse Dissidenz oder durch den Übertritt von Mitgliedern in andere Parteien geschwächt werden. Aber die Partei hat sich selbst so aufgebaut: Ihre Stärke beruht auch darauf, dass sie Kräfte anderer Parteien hat aufsaugen können. Vor allem die rechtsradikalen Gruppierungen und fremdenfeindlichen Bewegungen der 1970er-Jahre.
swissinfo: Ändert sich die Schweizer Parteienlandschaft?
H.-U.J.: Nein. Auch die jetzt gewählte SVP-Vertreterin verfolgt in Grundsatzfragen keine Politik, die nicht der SVP entspricht. Teils entspringt diese sogar dem Blocherschen Diktat. In der Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik wird es deshalb nicht zu Gewichtsverschiebungen kommen.
swissinfo: Was erwarten Sie punkto politischem Klima? Verschärft sich dies jetzt?
H.-U.J.: Ja, das hat die Rede von Bundesrat Blocher am Donnerstagmorgen gezeigt. Die Frustration in den Kreisen, die schon immer sehr emotionsgeladen politisiert haben, ist gross. Das führt zu einem weiteren Schüren der politischen Demagogie.
Aber auch das Strohfeuer der SVP-Polemik wird einmal ausgehen. Ich gehe davon aus, dass sich die ‹vernünftige Art der Politik› – manche sprechen gar von einer ‹langweiligen Art› – wieder einstellen wird.
swissinfo: Ist dieser Eklat sogar eine Chance für die Schweiz?
H.-U.J.: Ich würde nicht von Chance sprechen, eher von einem Schritt zurück zur Normalität. Für mich ist das Wichtigste, dass die Demokratie Grenzen gesetzt hat und eine gewisse Moral herzustellen versucht. Die erachte ich als notwendig. Demokratie ist immer ein sehr fragiles Gebilde, das von der Demagogie und machthungrigen Personen in Gefahr gebracht wird.
Es ist ein Glücksfall, dass sich die Kräfte – wenn auch etwas überstürzt – sammeln und zeigen konnten, dass ihnen eine zivilisierte Demokratie wichtiger ist als irgendwelche spektakulären politischen Schritte in eine ungewisse Zukunft.
Die SVP steht nicht für Fortschritt, sondern ist der Vergangenheit zugewandt. Sie hat alte historische Elemente wieder zu beleben versucht und damit der Schweiz den Weg in die Zukunft verbaut.
swissinfo-Interview, Renat Künzi
Der gebürtige Seeländer, geboren 1940, doktorierte an der Universität Bern in Geschichte und Philosophie. 1981 wurde er Professor für neueste Geschichte an der Universität Lausanne.
Jost war Offizier der Schweizer Armee und Kampfjet-Pilot, hat aber aus seiner linken Gesinnung nie einen Hehl gemacht. Er gehörte zur Studentenbewegung 1968.
Als Historiker gehört er zu jener Generation, welche die Schweiz zu einer realistischeren Sicht der Vergangenheit bewegte, namentlich auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Jost ist seit 2005 emeritiert, befasst sich aber immer noch mit Forschungs-Projekten, jetzt auf europäischer Ebene.
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