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Zwei Kreuze mit Tücken

Keystone

Das Schweizer und das deutsche Wahlsystem unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Ein deutsches Kuriosum sind die Überhangsmandate, die eigentlich verfassungswidrig sind. Union und FDP könnten sie dieses Jahr zu einem Wahlsieg verhelfen.

«Sie haben zwei Stimmen.» So steht es auf dem Wahlzettel, den man in Deutschland mit in die Wahlkabine nimmt. Anders als in der Schweiz, wo bei Nationalratswahlen jeder Wahlberechtigte so viele Stimmen hat wie seinem Kanton Nationalräte zustehen, darf der deutsche Stimmbürger bei der Bundestagswahl gerade einmal zwei Kreuzchen machen.

Hört sich einfach an. Schaut man jedoch genau hin, was die zwei Kreuze alles anrichten können, wird es schnell kompliziert, denn das deutsche Wahlsystem hat so manche Tücken. Aber von Anfang an.

Alle vier Jahre werden die 598 Sitze im Bundestag neu verteilt. Wer über 18 ist und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, sucht heuer am 27. September mit seinem Wahlbenachrichtigungsschein ein Wahllokal in seinem Wahlkreis auf und lässt sich den Stimmzettel geben.

Mit der Erststimme entscheiden die Wähler, welcher Kandidat aus ihrem Wahlkreis direkt ins Parlament einzieht. Die Hälfte der Sitze im Bundestag – also 299 – werden auf diese Weise vergeben. Ausgezählt werden die Erststimmen dabei nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht: Wer die meisten Stimmen im Wahlkreis hat, zieht automatisch in den Bundestag ein – alle anderen Erststimmen fallen unter den Tisch.

Parteien mit Schlüsselposition

Mit der Zweitstimme entscheidet sich der Wähler für die Landesliste einer Partei. Anders als bei den Schweizer Nationalratswahlen darf dabei die Liste nicht verändert werden.

Mit der Zweitstimme werden proportional zur Stärke der Parteien in den Ländern die restlichen 299 Sitze im Bundestag vergeben. Die Parteien besetzen also weit mehr als in der Schweiz eine Schlüsselposition im deutschen Wahlsystem.

Um zu verhindern, dass sehr kleine Parteien in den Bundestag einziehen, was die Mehrheitsbildung erschweren würde, gibt es die so genannte Sperrklausel oder Fünf-Prozent-Hürde: Eine Partei erhält nur dann Mandate, wenn sie einen Anteil von mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erhält.

So weit so einfach. Kommen wir nun zu den Überhangmandaten – einem Kuriosum im deutschen Wahlsystem, das bei jeder Bundestagswahl für Streit sorgt.

Gewinnt nämlich eine Partei in einem Bundesland über die Erststimmen mehr Sitze im Parlament als ihr eigentlich über die Zweitstimmen zustehen, erzielt sie Überhangmandate. Diese entstehen vor allem dort, wo keine Partei eine Hochburg hat. Das ist zum Beispiel in den neuen Bundesländern der Fall, wo SPD, Linkspartei und CDU ähnlich stark sind.

So gewannen SPD-Kandidaten vor vier Jahren alle zehn Direktmandate in Sachsen-Anhalt. Bei den Zweitstimmen aber kam die SPD landesweit nur auf 43,2 Prozent; wonach ihr lediglich acht Sitze im Bundestag zugestanden hätten. Somit erzielte die SPD zwei Überhangmandate.

Taktisches Wahlverhalten

Überhangmandate können im extremen Fall dazu führen, dass eine Partei einen Sitz mehr bekommt, wenn sie ein paar Tausend Zweitstimmen weniger erhält. Ein Paradoxon? Ja, aber genau so geschah es bei der letzten Bundestagswahl, wo die CDU in Sachsen dank gewonnener Erststimmen vier Überhangmandate erhielt.

Im Dresdner Wahlkreis 160 wurde allerdings nach dem Tod der NPD-Kandidatin erst später als im Rest der Republik gewählt. Das war die Stunde der Rechenkünstler: Sie konnten zeigen, dass Zweitstimmen der sächsischen CDU wegen der bereits sicheren Überhangmandate unter dem Strich keinen zusätzlichen Abgeordneten bringen würde. Die Christdemokraten in Nordrheinwestfalen aber würden einen Parlamentarier abgeben müssen, weil eine Art bundesweiter Ausgleich zwischen den Landeslisten einer Partei stattfindet.

Die Dresdner CDU-Wähler verhielten sich wahltaktisch so, dass das negative Stimmengewicht nicht zum Tragen kam: Sie wählten die Liberalen, die ihr Zweitstimmenergebnis mehr als verdoppeln konnten, während die CDU unter der gefährlichen Marke blieb.

Sieg dank Überhangmandaten

Dieser Vorfall hat dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr das derzeitige Wahlverfahren für «widersinnig» und damit verfassungswidrig erklärt hat. Allerdings hat das Parlament bis 2011 Zeit für eine Neuregelung, so dass bei dieser Bundestagswahl Überhangmandate weiter zum Tragen kommen.

Nach Hochrechnungen könnten vor allem die Bürgerlichen davon profitieren. So wird erwartet, dass die Union durch Überhangmandate deutlich mehr Sitze im neuen Parlament erhält, als derzeit nach Umfragen anzunehmen ist. Eine extrem hohe Zahl von Überhangmandaten könnte Union und FDP im Herbst sogar den Wahlsieg sichern.

Und für alle, die noch mehr wissen wollen über die Bundestagswahl: Loriots Sketch «Der Wähler fragt, Politiker antworten» ist ein Klassiker und wird bei Youtube vor jeder Bundestagswahl hunderte Male aufgerufen.

Paola Carega, Berlin, swissinfo.ch

Eine der ersten Aufgaben des neuen Bundestags ist die Wahl des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin. Der Kandidatenvorschlag kommt vom Bundespräsidenten.

Faktisch kann dieser sich aber nur für den Kandidaten der Partei entscheiden, die als Sieger bei den Bundestagswahlen hervorgegangen ist.

Die Wahl ist geheim, und nur wenn der Kanzlerkandidat das absolute Mehr erreicht, ist er gewählt. Erhält er weniger als die Hälfte der Stimmen, läuft eine 14-tägige Frist, innerhalb derer beliebig viele Wahlvorgänge möglich sind.

Dies ist jedoch bislang noch nicht eingetreten. Seit 1949 wurden alle Bundeskanzler im ersten Wahlgang gewählt.

Der Bundeskanzler ist der Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland, faktisch also der mächtigste deutsche Politiker.

Im Protokoll steht er jedoch unter dem Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt – analog dem Nationalratspräsidenten als höchster Schweizer – und dem Bundestagspräsidenten – in der Schweiz entspricht dies dem Bundespräsidenten – als Vertreter aller Fraktionen.

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