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«Noch immer kämpfen die Opfer um jeden Franken»

Die Hilfe für Opfer von Gewaltverbrechen ist seit 25 Jahren in der Schweizer Verfassung vorgesehen. Am Anfang stand ein Aufruf, lanciert von der Zeitschrift "BeobachterExterner Link". Er führte zum heutigen Opferhilfe-Gesetz. Gastautor Andres Büchi, heutiger, Chefredaktor des Beobachters, stellt fest, dass Täter auch heute noch oft mehr Zuwendung erfahren als die Opfer.

Faust und Angst
Die Justiz wies die Genugtuung ab, weil die Taten vor 2007 stattgefunden hatten. Das war juristisch korrekt – aber war es auch im Sinne des Opferschutzes? (Symbolbild) Stefano Lunardi

„Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Keiner hat so treffend analysiert, wie schwierig es ist, mit den Mitteln der Rechtspflege so etwas wie Gerechtigkeit zu erreichen, wie das Friedrich Dürrenmatt mit diesem einzigen Satz in seinem Roman „Justiz“ geschafft hat. Doch mit der Einführung des Opferhilfegesetzes vor 25 Jahren wurde wenigstens ein Lift dorthin gebaut und die Tür so weit geöffnet, dass es Hoffnung gibt. Dass sich der Staat bei der Verbrechensbekämpfung nicht nur um die Täter kümmert, sondern auch um die Opfer. Das war lange nicht so.

Andres Büchi
Andres Büchi, Chefredaktor Beobachter zvg

Viel für die Täter, wenig für die Opfer

Vor genau 40 Jahren, 1977, wird Adelheid R. in einer Herbstnacht zuhause im Schlaf von einem vorbestraften Mann überfallen, mit einer Eisenstange geschlagen und schwer verletzt. Adelheid R. erleidet einen Schädelbruch und liegt mehrere Tage im Koma.

Nur wenig später wird der Täter gefasst.  Die Justiz funktioniert, der Mann erhält fünf Jahre Zuchthaus. Alles korrekt soweit. Aber für Adelheid R., das Opfer, ist das Leben nicht mehr, was es war. Auch ein Jahr nach der Attacke kann sie noch immer erst halbtags arbeiten. Noch immer leidet sie körperlich und seelisch. Ihr Einkommen deckt knapp das Existenzminimum. Und es gibt kaum Aussicht auf Entschädigung oder Genugtuung. Denn einen solchen Anspruch müsste sie in einem Zivilprozess durchsetzen. Aber dafür fehlen Adelheid R. die Mittel und die Unterstützung. Zudem wäre beim Täter nichts zu holen, da er im Gefängnis sitzt. Die verzweifelte Frau bittet unser Magazin, den „Beobachter“, um Hilfe. Redaktor Peter Rippmann prüft den Fall. Für den erfahrenen Journalisten ist es stossend, dass man in den 70er Jahren „zwar viel über die Wiedereingliederung von Straftätern redet, aber kaum über eine Wiedergutmachung für die Opfer“. Der „Beobachter“ beschliesst, etwas zu tun.

Eine Zeitschrift lanciert ein Volksbegehren

Am 30. September 1978 erscheint ein Artikel unter dem Titel „Wiedergutmachung – Für die Opfer von Verbrechen“. Der Artikel beklagt, dass die Zustände für Verbrechensopfer in der Schweiz „unwürdig“ seien und andere Länder diesbezüglich deutlich fortschrittlicher. So gab es in Deutschland, der damaligen BRD, bereits seit 1976 ein „Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten“. So etwas sollte auch die Schweiz anstreben. Redaktor Rippmann bat die Leserschaft, einen Talon zu unterschreiben und eine solche „Aktion für die Opfer von Verbrechen“ mitzutragen. Das Echo war riesig.

In den Wochen darauf publizierte der „Beobachter“ immer neue Berichte über Menschen, die durch eine Gewalttat geschädigt und mit den Folgen allein gelassen wurden. Knapp sechs Monate nach dem ersten Aufruf lancierte die Zeitschrift die Volksinitiative „Zur Entschädigung der Opfer von Gewaltverbrechen“.

„Der Bund erlässt ein Gesetz, das die Voraussetzungen regelt, unter denen der Staat die Opfer von vorsätzlichen Straftaten gegen Leib und Leben angemessen entschädigt.“

Die zentrale Forderung: „Der Bund erlässt ein Gesetz, das die Voraussetzungen regelt, unter denen der Staat die Opfer von vorsätzlichen Straftaten gegen Leib und Leben angemessen entschädigt.“ Das Ziel war ambitiös. Eine Verfassungsänderung von 1977 verlangte, dass für eine Initiative nicht mehr nur 50’000 sondern 100’000 Unterschriften gesammelt werden müssen. Aber keine Partei, keine Interessengruppe, kein Verband stand hinter dem Vorstoss. Am 15. Mai 1979 liegt jedem „Beobachter“ ein Unterschriftenbogen bei. „Seit Jahren setzen sich einsichtige Bürger für neuzeitliche Strafvollzugsmethoden ein“, schreibt das Magazin, „aber diese Bemühungen sind nicht immer glaubwürdig, wenn nicht gleichzeitig auch an das Schicksal der Opfer gedacht wird.“

Das Gesetz ist da, die Hilfe bleibt bescheiden

38 Jahre später haben wir ein Opferhilfegesetz, aber der Satz hallt noch immer nach. Denn zu oft entsteht auch heute noch der Eindruck, wir würden in unserem Land alles tun, um Gewalttäter möglichst gut zu reintegrieren, während die Opfer vergleichsweise wenig Hilfe finden. Der Fall „Carlos“ steht exemplarisch dafür, wie viel wir uns das kosten lassen. Für Zigtausende Franken pro Monat sollte der junge Mann in einem fragwürdigen Sondersetting mit Kickboxen sozialisiert werden – ohne Erfolg.

Auch wenn man das nicht direkt gegenüberstellen kann, nehmen sich die  Entschädigungszahlungen und die Genugtuungen für Opfer demgegenüber vergleichsweise bescheiden aus und bleiben in den meisten Fällen auf einige wenige tausend Franken pro Fall beschränkt.

Die Öffentlichkeit reagiert aber stets sensibel auf solch unterschiedliche Behandlungen von Tätern und Opfern. Das gesunde Volksempfinden, die in jedem Menschen verankerte Hoffnung, der Staat möge Unrecht nicht nur ahnden und möglichst verhindern, sondern auch für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen, ist einer der grössten Treiber für das Funktionieren einer Demokratie.

Faust bedroht Frau
Entschädigungszahlungen bleiben in den meisten Fällen auf einige wenige tausend Franken pro Fall beschränkt. (Symbolbild) Bia Lasiewicz

Die Geschichte des Opferhilfegesetzes ist Beleg dafür. Am 27. September 1980 kam die Initiative zustande, mit über 162’000 gültigen Unterschriften. Am 22. Juni 1984 lag der Bundesbeschluss für einen neuen Verfassungsartikel vor. Der Text ging in einem zentralen Punkt sogar über die Initiative hinaus: Nicht nur die Opfer „vorsätzlicher“, sondern auch jene „fahrlässig“ begangener Straftaten gegen Leib und Leben sollen künftig staatliche Hilfe in Anspruch nehmen können. Der „Beobachter“ zog seine Initiative zugunsten dieses Gegenvorschlags zurück. Und er warb für ein Ja.

Grafik über Entschädigungen und Genugtuungen für Opfer von Straftaten
swissinfo.ch

Am 2. Dezember 1984 wurde die Opferhilfe angenommen, mit über 81 Prozent Ja-Stimmen. Doch trotz des deutlichen Verdikts sollte es noch weitere acht Jahre dauern, bis auf Januar 1993 endlich das erste Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten in Kraft treten konnte. Das Gesetz wurde 2009 revidiert und umfasst heute: Moralische Hilfe, also Beratung und Betreuung, Rechtshilfe und besondere Rechte im Strafverfahren sowie materielle Hilfe, darunter Soforthilfe, aber auch Geldleistungen für Entschädigung und Genugtuung.

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 Bei der Opferhilfe wird gespart

Können wir uns also beruhigt zurücklehnen? Leider nein. Die Opferhilfe braucht dringend einen neuen Schub. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demoscope ergab 2014, dass nicht mal jeder Zweite weiss, dass es das Opferhilfegesetz überhaupt gibt. Zudem zeigte sich in den letzten Jahren, dass auch bei der Opferhilfe gespart wird und dass die Kantone unterschiedlich grosszügig sind. Erst vor knapp acht Jahren wurden die Maximalbeträge für die Genugtuung auf 70’000 Franken für Opfer, bzw. 35’000 Franken für Angehörige begrenzt. Die Folge: Die Bemessung der finanziellen Hilfe im Einzelfall wird an diesen Maximalbeträgen ausgerichtet und tendenziell nach unten korrigiert.  Doch die Leiden der Opfer von Gewalttaten, die danach und daraus entstehenden Kosten werden nicht kleiner.

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Resozialisierungskosten für jugendlichen Straftäter

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Nachdem er einen anderen Jugendlichen niedergestochen hatte, ging «Carlos» nicht ins Gefängnis, sondern absolvierte ein Rehabilitierungs-Programm, das den Kanton Zürich mehr als 29’000 Franken pro Monat kostete. Der 18-jährige Carlos (Name geändert) ist der Sohn eines Schweizers und einer Brasilianerin. Er wurde wegen Raub, Gewalt, Waffenbesitz und Drogenkonsum verurteilt. Vor zwei Jahren, als er noch…

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Vor allem aber: Gewaltopfer müssen auch heute noch kämpfen um jeden Franken. Anfang 2013 berichteten wir über eine 29-jährige Frau, die als Kind aufs Schwerste missbraucht worden ist. Mit Anfang 20, im Jahr 2006, zeigte sie den Täter, den Vater einer Freundin, an und verlangte Schadenersatz. Sechs Jahre später bestätigte das Bundesgericht das Urteil: Sechs Jahre Haft wegen mehrfacher Vergewaltigung. Und eine zivilrechtliche Genugtuung für das Opfer in Höhe von 70’000 Franken  Diesen Betrag erhoffte sich die Frau danach via Opferhilfegesetz, weil der Täter nicht zahlen konnte.

Die Tür zur Gerechtigkeit ist zwar einen Spalt breit aufgegangen. Aber das, was wir für die Opfer tun, ist noch immer nur ein Klacks.

Aber leider vergeblich. Die Zürcher Justizdirektion wies die Genugtuung ab, weil die Vergewaltigungen vor 2007 stattgefunden hatten.  Das war wohl juristisch korrekt – aber war es auch im Sinne des Opferschutzes? Oder die 48-jährige Nicole Dill. Sie wurde im Jahr 2007 durch drei Armbrustpfeile eines Gewalttäters lebensgefährlich verletzt. Jahrelang musste sie vor Gericht streiten, bis die Unfallversicherung ihre Heilungs- und Therapiekosten übernahm.

Die Tür zur Gerechtigkeit ist vor 25 Jahren mit dem Opferhilfegesetz zwar einen Spalt breit aufgegangen. Aber gegenüber dem Aufwand für die Reintegration der Täter ist das, was wir für die Opfer tun, noch immer nur ein Klacks. Das Armbrustopfer Nicole Dill sagt nach ihrem jahrelangen Kampf: „Die Genugtuungssummen sind nichts im Vergleich zu den Therapiekosten für gewisse Täter.“  Das ist es, was auch heute noch stossend ist. Jedes Opfer hat Anrecht auf eine anständige Genugtuung, und diese sollte in einer gesunden Relation stehen zu dem, was wir für die Täter tun.

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