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Schweizer Firmen positionieren sich im Poker um möglichen Brexit

London ist eines der wichtigsten Finanz- und Geschäftszentren Europas. Keystone

Die Zahlen sprechen für sich: Mit 11,7 Milliarden Franken an Exporten, fast 80 Milliarden Franken Direktinvestitionen und 194'000 Angestellten ist Grossbritannien einer der wichtigsten Geschäftsstandorte für Schweizer Firmen. Weniger klar ist, wie dies nach einem möglichen Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union aussehen würde.

Die Hälfte jener 185 Unternehmen aus der Schweiz und aus Grossbritannien, die kürzlich von der britisch-schweizerischen Handelskammer (BSCC) befragt wurden, ist der Meinung, ihre Zukunft sähe düsterer aus, sollten die Briten am 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) stimmen. Lediglich 13,5% der befragten Firmen glauben, nach einem so genannten Brexit würden sich ihre Geschäfte verbessern. Etwas mehr als ein Drittel der Unternehmen sagen, sie erwarteten keine Veränderungen.

Kommentare aus der BSCC-Umfrage

«Unsere Fähigkeit, von London aus Zugang zur EU zu haben, müsste im Verhandlungsprozess geklärt werden. Und auch wenn während zwei Jahren keine Veränderungen erwartet werden, wird es zu Unsicherheit und Marktvolatilität kommen, und in der Folge könnten andere Orte zu attraktiveren Basen werden. Doch auch ein Entscheid, von London wegzuziehen und sich anderswo niederzulassen, wäre in dieser zweijährigen Phase sehr komplex.»

«Meine Firma ist ein Schweizer KMU, deshalb denke ich, dass meine Geschäfte nicht direkt betroffen sind, sollte Grossbritannien die EU verlassen.»

«Ich leite als ‹Grenzgänger› ein Schweizer KMU. Es ist absolut möglich, dass dies nicht mehr durchführbar sein wird, sollte Grossbritannien die EU verlassen (Ich kann dies erst seit 2004 dank dem freien Personenverkehr machen). Ich wäre gezwungen, meine Firma zu schliessen. Davon hat niemand etwas. Ich tätige in der Zeit vor der Abstimmung bereits keine neuen Investitionen mehr. Kurz: Für kleinere britische Unternehmen ist es nur schlecht.»

«Mein Unternehmen ist stark auf Grossbritannien ausgerichtet, und ich bin sehr beunruhigt über die kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen eines möglichen Votums Grossbritanniens, die EU zu verlassen. Ich befürchte, ein Brexit würde das Land vor unüberwindbare Herausforderungen stellen und sich deutlich auf seine relative Attraktivität auswirken.»

«Sollte Grossbritannien die EU verlassen, müssen wir als europäische Bank unsere Organisation anpassen und vermutlich aus vielen Unternehmen aussteigen, die von London aus tätig sind. Insgesamt wird es sich auf die Kosten auswirken und zu Veränderungen führen, weshalb es negativ für unsere Firma wie auch für Grossbritannien wäre, weil wir viele Angestellte werden entlassen müssten.»

Doch die anonym abgegebenen Kommentare in der Umfrage zeugen von der Unsicherheit in der Frage einer möglichen Abspaltung. Tatsache ist, dass Unternehmen in beiden Ländern verzweifelt versuchen herauszufinden, in welche Richtung der Wind wehen würde, sollte sich Grossbritannien für einen Alleingang nach Schweizer Muster entscheiden.

Solch ehrliche Kommentare werden nur unter garantierter Anonymität abgegeben. In der Schweiz brechen die Chefs nur ungern ihr Schweigen, aus Angst vor Vorwürfen, sie würden sich in die Aussenpolitik einmischen, die Shareholder verärgern oder schlicht weil sie sich noch kein genaues Bild aller möglichen Eventualitäten gemacht haben.

Die wenigen Führungskräfte, die etwas zum Brexit zu sagen wagen, sind ebenfalls unterschiedlicher Meinung. «Jedes Unternehmen wäre gezwungen, die Auswirkungen von Investitionen im Vereinigten Königreich neu zu bewerten», sagte Nestlé-Präsident Peter Brabeck im Januar gegenüber Sky News.

Doch Sergio Ermotti, Firmenchef der Schweizer Grossbank UBS, die in London 5500 Personen beschäftigt, schätzt die Lage optimistischer ein, wenn er sich auch vorsichtig äussert: «Ich gehe davon aus, dass wir eine starke Präsenz behalten würden, aber das hängt von vielen Faktoren ab, die heute noch nicht klar sind», sagte er Anfang März gegenüber der Süddeutschen Zeitung.

Allgemein ist man sich einig, dass Grossbritannien zwei Jahre brauchen würde, um sich von der EU loszulösen. Dann müsste es als unabhängiger Staat die Beziehungen zur Union und zum Rest der Welt neu verhandeln. Es gibt also noch zahlreiche Fragezeichen zur möglichen Zukunft des Landes.

Lobby-Gruppen

Dies wird in den Haltungen der verschiedenen Schweizer Wirtschaftslobbys sichtbar. «Es wird keinen plötzlichen Schock oder eine Katastrophe geben, sollte Grossbritannien die EU verlassen», sagt Jan Atteslander vom Wirtschafts-Dachverband Economiesuisse gegenüber swissinfo.ch. «Die Welt wird am 24. Juni immer noch dieselbe sein. Was anders sein wird, ist eine grosse Unsicherheit betreffend der Zukunft der wirtschaftlichen Integration der britischen Wirtschaft in Europa.»

Zudem glaubt Atteslander, dass die Märkte einen potenziellen Brexit bereits in ihre Wechselkurse mit einbezogen haben. In anderen Worten: Weil viele Anleger ihre Währungsspekulationen angesichts einer möglichen Abspaltung bereits abgesichert hätten, würden Pfund und Euro gegenüber dem Schweizer Franken nicht allzu stark an Boden verlieren. Es sei denn, die Märkte würden mit unerwarteten Nachrichten über den Brexit konfrontiert.

Trotzdem ist Atteslander der Meinung, dass Unternehmen die gegenwärtige wirtschaftliche Unsicherheit einkalkulierten, wenn sie entscheiden würden, wie viel sie kurzfristig in Grossbritannien investieren möchten.

Swissmem, die Lobbygruppe der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, nimmt eine pessimistischere Haltung ein. Ihre Mitgliederfirmen exportieren vier Prozent ihrer Produkte nach Grossbritannien.

«Kurzfristig würde ein Brexit die Unsicherheit in der EU erhöhen», schreibt der Verband in einer Stellungnahme gegenüber swissinfo.ch. «Dies könnte Auswirkungen auf den Franken-Euro-Wechselkurs haben. Wir würden von einem Aufwärtsdruck auf den Franken mit anschliessenden [negativen] Folgen für die Exportindustrie ausgehen.» Gemäss Swissmem würde ein Brexit die EU langfristig schwächen. Dies wären zusätzlich schlechte Nachrichten für Schweizer Unternehmen.

Switzerland Global Enterprise, die Bundesagentur zur Förderung der Schweizer Aussenwirtschaft, erklärt gegenüber swissinfo.ch, dass die von ihnen beratenen Unternehmen «in den meisten Fällen nicht planen, ihre Strategie oder ähnliches anzupassen, bis die Situation berechenbarer geworden ist».

Handel Schweiz-Grossbritannien

2015 exportierten Schweizer Firmen Waren im Umfang von 11,7 Mrd. Fr. nach Grossbritannien und importierten solche für 6,6 Mrd. Fr. (ohne Juwelen und Edelmetalle) von der Insel. Damit ist Grossbritannien der fünftgrösste Importeur von Schweizer Waren und der achtgrösste (mit Juwelen und Edelmetallen sogar der zweitgrösste) Exporteur in die Schweiz.

Noch beeindruckender sind die Schweizer Investitionen in Grossbritannien: Mit 78,7 Mrd. Fr. (2013) ist die Schweiz der drittgrösste Direktinvestor (Gebäude und Maschinen) in Grossbritannien. Ende 2013 beschäftigten Schweizer Firmen in Grossbritannien 193’700 Personen. Damit befinden sich in dem Land am viertmeisten Jobs, die von Schweizer Unternehmen im Ausland angeboten werden.

Britische Unternehmen hatten zur selben Zeit 21,3 Mrd. Fr. in der Schweiz investiert und boten 26’800 Jobs an. Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) sind die grössten in der Schweiz tätigen britischen Firmen HSBC, Vodafone, BP und Unilever.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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