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«Anatolischer Tiger» öffnet sich der Schweiz

Bruno Barbey/Magnum

Mit ihrem Swiss Business Hub in Istanbul tut die Aussenhandelsförderin Osec einen wichtigen Schritt, um die zwar peripher gelegene, aber sechstgrösste europäische Wirtschaft auch für kleinere und mittlere Schweizer Unternehmen zugänglicher zu machen.

Im nächsten Frühling eröffnet die Osec in der türkischen Metropole am Bosporus den 20. Swiss Business Hub. Anfang 2013 treten auch die Bestimmungen des 2012 ausgehandelten Doppelbesteuerungs-Abkommens Türkei-Schweiz in Kraft. Für Exporteure und Investoren öffnet sich ein weiteres Schwellenland.

Mit diesem Markt öffnet sich die Wirtschaft eines Landes, das in der Schweiz wie auch in Westeuropa zwiespältig wahrgenommen wird. Einerseits eine schöne und günstige Feriendestination mit Istanbul als kulturellem Höhepunkt der reichen Westtürkei. Anderseits das ostanatolische Armenhaus des Landes, wo die Kaufkraft noch knapp ein Drittel der Westtürkei beträgt, und von wo zahlreiche türkische Gastarbeiter in der Schweiz und in anderen Ländern stammen.

Solche Kontraste vertragen sich schlecht mit dem nachhaltigen Wachstum, das die Türkei seit dem Jahrtausendwechsel ausweist. Ebenso passt die aufgeklärt scheinende Business Skyline am Bosporus schlecht zu den immer wieder anstehenden Menschenrechts-Prozessen, zum Beispiel in der Kurdenfrage. Und trotz allem: Die Türkei boomt seit bald einem Jahrzehnt, ganz im Gegensatz zu weiten Teilen der gesamten EU.

Rasanter Image-Wechsel

Dieser Boom wird aber noch wenig wahrgenommen. Der Türkei-Spezialist der Osec, Alberto Silini, spricht von einem «völlig falschen Bild der Türkei». Eine Imagekorrektur sei angebracht. Denn ähnlich wie die BRIC-Staaten habe auch die Türkei innert wenigen Jahren einen rasanten (Image-)Wechsel vollzogen.

Als Touristen bereits in Massen in die südtürkischen Hotel-Resorts flogen, flohen Investoren immer noch aus dem Land: Kapitalflucht und Hyperinflation beim «Kranken Mann am Bosporus» wurden bis vor einem Jahrzehnt in den Schlagzeilen in der Schweiz beschworen.

Seit Jahren weise aber das Land an der Peripherie Europas die höchste Wachstumsrate des Alten Kontinents auf, bilanziert das Institut für interkulturelle Zusammenarbeit und Dialog (Dialog-Institut). An einem von ihm im Oktober organisierten Türkei-Anlass an der Universität Zürich hiess es sogar, die Türkei habe, da wenig verschuldet, die Finanzkrise bereits überstanden.

Zwischen Syrienkrise und Griechen-Chaos

2010 verzeichnete die Türkei ein wirtschaftliches Wachstum von 8%, 2011 eines von 9,2%. Nur China und Argentinien wuchsen schneller, während der südliche Nachbar Syrien im Krieg und der westliche Nachbar, Griechenland, im Schuldenchaos versinken. Gleichzeitig sank in der Türkei die Staatsverschuldung von 75 auf 40% des Bruttosozialprodukts, während die laufende Verschuldung in der EU kein Ende nimmt.

«Noch 2001 stand die Türkei selbst am Rande eines Staatsbankrotts – dort, wo heute Griechenlands steht», sagte der Türkei-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, Thomas Fuster, am Anlass in Zürich. Nach 2001 habe das Land mit Hilfe des Währungsfonds einen Neuanfang gestartet – «also genau das gemacht, was heute die Südeuropäer tun müssten».

Zu den weiteren Standort-Vorteilen des Landes gehören: Mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren eine der jüngsten Bevölkerungen Europas, die bis 2050 auf über 90 Millionen gewachsen sein dürfte; ein zunehmender Mittelstand; die besondere Lage zwischen Europa, dem Nahen Osten und Zentralasien; ein guter Ruf und hohe Popularität bei den Arabern, denen laut Fuster die türkische Formel von Modernität, Islam, Demokratie und Wachstum als Vorbild dient.

Energie- und Gender-Gap

Doch das Land hat auch wirtschaftliche Schwächen, wie das hohe Defizit der Leistungsbilanz. Diese Bilanz beinhaltet alle wirtschaftlichen Transaktionen eines Landes zwischen In- und Ausland (Handel mit Waren, Dienstleistungen, Kapitalflüsse, etc.). Ein Defizit, also ein negativer Aussenbeitrag, entspricht einem Vermögensrückgang – die türkische Wirtschaft ist deshalb auf Kapitalzuflüsse aus dem Ausland angewiesen.

Keine richtige Billiglohnproduzentin mehr, stehe in der Türkei die Industrie wertschöpfungsmässig immer noch auf schwachen Füssen. Und da die Löhne nicht mehr billig respektive eben die Mindestlöhne hoch sind, entfällt laut Fuster ein hoher Anteil der Wirtschaftsaktivität auf den informellen Sektor – die Schwarzarbeit.

Eine weitere Schwäche liegt in der Importstruktur: Ein hoher Anteil der Importe entfällt auf Energieträger – Erdöleinfuhren also, an denen sich kaum einsparen lässt.

Auch nützt eine grosse und junge Bevölkerung wirtschaftlich nicht viel, wenn deren Arbeitspotenzial schlecht genutzt wird – besonders bei den Frauen. Nur 30% der Frauen in der Türkei gehen einer bezahlten Beschäftigung nach, in der Schweiz liegt dieser Anteil doppelt so hoch.

Der Umstand, dass zur Zeit mehr qualifizierte türkische EU-Secondos in die Türkei zurückkehren als anatolische Gastarbeiter auswandern, die offizielle Arbeitslosigkeit aber rund 10% beträgt, indiziert ein gewisses Ungleichgewicht zwischen Arbeitsmarkt und Ausbildung. An einer dualen Berufsbildung wie in der Schweiz wird gearbeitet.

Da die Bevölkerung sehr jung ist, gibt es fast 16 Mio. Schüler. Seit 2002 reformiert die Regierung das veraltete Bildungswesen. Doch es besteht weiterhin ein starkes Ost-West-Gefälle.

Was Schweizer Exporteure mögen

Laut Emre Pinarli von der türkischen Investitionsförderungsagentur will das Land 10’000 km in Hochgeschwindigkeits-Schienen und –Züge investieren und 15’000 km in Autobahnen. Dazu kommen Hafenprojekte und Zentren für den Gesundheitstourismus.

Alles Infrastrukturvorhaben, wie sie Schweizer Engineering- und HiTech-Grossunternehmen gern sehen. «Das Wasser läuft den Schweizer KMUs im Mund zusammen, so viele Investitionen stehen in der Türkei an», wie Silini von der Osec sagt. «Und zwar in jenen Bereichen, in denen Schweizer Firmen gut teilnehmen können.»

Ein derartiger Infrastrukturausbau lässt auch den Energiebedarf steigen. Nachdem die Schweiz und andere Länder auf innenpolitischen Druck hin 2009 ihre Exportrisikoversicherung für den Ilisu-Staudamm (Tigris-Fluss) gestoppt hatten und sich das Projekt verzögerte, stehen nun auch Kernkraftwerke auf der türkischen Planungsliste.

Mit rund 3 Milliarden in der Türkei direktinvestierten Franken gehört die Schweiz zu den wichtigsten Investorenländern am Bosporus.

Dies entspricht zwar nur 0,3% der gesamten Schweizer Ausseninvestitionen – aber laut Osec ist das Potenzial der Türkei für Schweizer gross.

Die 3 Milliarden verteilen sich auf rund 600 Schweizer Unternehmen. Diese beschäftigen insgesamt 15’000 türkische Mitarbeitende.

Die Schweizer Grossunternehmen im Pharma- und Chemiebereich produzieren seien bereits im Land selbst ansässig geworden. Schweizer Uhrenhersteller planen, in der Türkei eine Uhrmacherschule zu eröffnen.

BSP (Mrd. $): 822 (2012), 888 (2013), 952 (2014)

BSP pro Kopf ($): 10’973, 11’716, 12’412

BSP-Wachstum (real, %)): 4.0, 5.0, 5.0

Arbeitslosigkeit (%): 10,4, 10,2, 9,9

Tourismuseinnahmen (Mrd. $): 26,29,31

Leistungsbilanzdefizit (Mrd.$): -65,4, -67,-67,1

Leistungsbilanz/BSP (%): -8,0, -7.5. -7,0

Quelle: Türkisches Entwicklungs-Ministerium

Als symbolischer Wirtschaftsbezug ersten Ranges zwischen der Türkei und der Schweiz galt der Versuch, das Geschäftsmodell der Migros-Genossenschaften zu übernehmen (1954). «Migros Türk» wurde zwar 1974 unabhängig, durfte aber das M-Label und den Namen weiter führen.

Sie ist die grösste Supermarktkette der Türkei.

1925 schlossen die Türkei und die Schweiz einen Freundschaftsvertrag, dem 1930 ein Niederlassungsabkommen und eine erste Handelsübereinkunft folgten.

1991 hat die Schweiz im Rahmen der Efta mit der Türkei ein Freihandels-Abkommen geschlossen (Abbau von Handelshemmnissen).

Laut Osec muss man die Schweizer KMUs erst auf den Markt Türkei sensibilisieren. Für Clean-Tech-Kompetenzen, Umwelt- und Abfallmanagement in kleineren Städten oder Gesundheit stünden in der Türkei viel Geld zur Verfügung.

Viele Projekte seien auch Weltbank-initiiert. Da die Schweiz dort Geldgeber sei, partizipiere sie auch an den öffentlichen Ausschreibungen.

Über die Türkei als Zwischenstation seien für Schweizer KMUs auch die benachbarten Märkte im Nahen Osten, Nordafrika und Zentralasien erreichbar.

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