«Der Arbeitskräftemangel könnte leicht behoben werden»
Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften ist zur Hauptsorge der Schweizer Arbeitgebenden geworden. Es gebe Lösungen, ohne dass die Einwanderung verstärkt werden müsse, sagt Monica Dell'Anna, Präsidentin der italienischen Handelskammer für die Schweiz.
Sie kennt die Schweiz gut. Die Italienerin Monica Dell’Anna begann ihre Karriere bei der Beratungsfirma McKinsey, bevor sie zum Telecom-Anbieter Swisscom wechselte, wo sie über zehn Jahre lang blieb.
Nach verschiedenen Funktionen bei BKW (Energie) und später bei der NZZ-Gruppe (Medien) wurde Dell’Anna 2020 zur Geschäftsführerin von Adecco für die Schweiz und Österreich ernannt, wo sie bis 2022 engagiert war.
Derzeit ist sie Präsidentin der Italienischen Handelskammer für die Schweiz. Sie sitzt ausserdem in mehreren Verwaltungsräten, unter anderem bei B Capital Partners AG (Vorsitz) und Swissquote.
Dell’Anna wurde 1971 in Italien geboren und studierte Telekommunikationsingenieurwesen an der Universität Pisa, bevor sie am King’s College London promovierte.
swissinfo.ch: 630’000 Italienerinnen und Italiener leben in der Schweiz, darunter 300’000 mit schweizerisch-italienischer Doppelnationalität. Fühlen Sie sich als Italienerin in der Schweiz gut aufgenommen?
Monica Dell’Anna: Ja, ich fühle mich sehr wohl. Und meine Integration wurde durch meinen Berner Ehemann erleichtert.
Wie viel von Ihnen ist nach über 20 Jahren in der Schweiz immer noch italienisch?
Mein Herz ist italienisch, und ich habe ein sehr grosses Interesse an Italien behalten. Mit anderen Worten, ich bin 100% Italienerin geblieben, obwohl ich natürlich auch von der Schweiz und von England beeinflusst wurde, wo ich ebenfalls lange Jahre gelebt habe.
In Sportwettbewerben unterstütze ich Italien, auch wenn ich jetzt Doppelbürgerin bin.
Wie hat sich die Migration von Italien in die Schweiz in den letzten Jahrzehnten entwickelt?
In den 1960er- und 1980er-Jahren hatte die Schweiz einen grossen Bedarf an relativ gering qualifizierten Arbeitskräften. Und besonders im Süden Italiens herrschte eine hohe Arbeitslosenquote.
Das führte natürlich zu einer massiven Einwanderung von Saisonarbeitenden und solchen mit Jahresverträgen. Diese Migration ging einige Jahrzehnte später vollständig zurück.
In jüngster Zeit ist die Arbeitslosenquote in Italien wieder gestiegen, und wir beobachten erneut eine leichte Bewegung in Richtung Schweiz. Diesmal jedoch sind es hochqualifizierte Arbeitskräfte, die kommen.
Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) ist die Schweiz die fünftgrösste ausländische Investorin in Italien, während Italien in der Schweiz nur auf Platz 17 steht. Was ist der Grund dafür?
Die italienischen Investitionen in der Schweiz könnten tatsächlich höher sein. Ich denke, dass die italienischen Unternehmen die Schweiz – mit Ausnahme des Tessins – nicht gut genug kennen. Zudem ist die deutsche Sprache wahrscheinlich eine Barriere für italienische Unternehmen.
Welche Stärken sollte Italien hervorheben, um mehr Schweizer Investitionen anzuziehen?
Italien ist ein grosser Markt, und unsere Arbeitskräfte verfügen über hohe Kompetenzen, speziell im technologischen Bereich. Wussten Sie etwa, dass in Italien die grösste pharmazeutische Produktion der EU angesiedelt ist?
Darüber hinaus sind die Italienerinnen und Italiener sehr kreativ, flexibel und menschlich. In einer «technologischen» Welt, die durch zunehmende Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit gekennzeichnet ist, sind diese Eigenschaften von entscheidender Bedeutung.
Was sind die grössten Hindernisse für ausländische Direktinvestitionen in Italien?
Ich denke, dass die Unternehmen – speziell die schweizerischen – zu viele negative Vorurteile gegenüber Italien haben. Zudem berücksichtigen Rankings wie der «Global Competitiveness Report» des Weltwirtschaftsforums (WEF) nicht immer die makroökonomischen Realitäten Italiens. Aus diesem Grund wird Italien weltweit nur etwa um den 30. Rang herum klassiert.
Laut einer kürzlich von EY durchgeführten Umfrage sind die drei grössten Hindernisse für ausländische Investitionen in Italien die regulatorische und politische Unsicherheit, die langsamen Mühlen der Justiz und die Bürokratie im Allgemeinen.
Ich kann Ihnen versichern, dass die italienischen Behörden die Beseitigung dieser Hindernisse sehr ernst nehmen.
Bevor Sie Präsidentin der Italienischen Handelskammer für die Schweiz wurden, waren Sie in leitender Funktion bei Adecco tätig, dem weltweit führenden Personalvermittlungsunternehmen. Wie beobachten Sie die Entwicklung der Arbeitswelt in der Schweiz?
Mit einer Arbeitslosenquote von nur 2,2% im Jahr 2022 ist die Hauptsorge nicht mehr die Arbeitslosigkeit, sondern der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Diese Problematik beschäftigt uns schon seit mehreren Jahren. Aber sie tendiert jetzt in Richtung einer Verschärfung.
Eine weitere wichtige Entwicklung betrifft die Erwartungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese wünschen sich mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten und die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten. Die Pandemie hat diese Entwicklung noch verstärkt.
Wie erklären Sie sich den zunehmenden Mangel an qualifizierten Arbeitskräften?
Vor allem nach der Pandemie zogen es viele Arbeitnehmende aus dem Ausland vor, in ihre Heimatländer zurückzukehren oder dort zu bleiben. Denn dort herrscht derselbe Mangel wie in der Schweiz. Besonders angespannt ist die Lage in bestimmten Branchen wie IT und Gastgewerbe.
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Wie können Unternehmen mit dieser Problematik umgehen?
Erstens sollten die Unternehmen den Schwerpunkt auf Weiterbildung und Neuqualifizierung legen.
Zweitens muss jedes Unternehmen klar definieren, was es seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern neben dem Gehalt noch bietet. In vielen Branchen haben sich die Firmen traditionell auf den Mehrwert für die Kundschaft konzentriert. Aber jetzt müssen sie mehr an ihre Mitarbeitenden denken.
Drittens müssen die Unternehmen lernen, wie sie die Vielfalt der Profile besser nutzen können. Angefangen bei der Beschäftigung von Frauen: Wenn Frauen in der Schweiz die gleiche Beschäftigungsquote wie Männer hätten, könnte der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften leicht behoben werden.
Hat die Politik den Fachkräftemangel nicht kommen sehen?
Das würde ich nicht behaupten. Das Konsenssystem in der Schweiz lässt jedoch keine raschen Lösungen zu. Das soll keine Kritik am Schweizer System sein. Denn es ist in der Lage, solide und nachhaltige Lösungen zu finden. Dennoch ist es in der heutigen Zeit oft wichtig, unverzüglich zu handeln.
Die Politik kann die Rahmenbedingungen sicherlich verbessern. Ich denke da zum Beispiel an die Kinderbetreuung oder das aktuelle Steuersystem, das Frauen davon abhält, einer Arbeit nachzugehen.
Beobachten Sie angesichts des Fachkräftemangels eine Veränderung der Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebenden und Angestellten?
Auf jeden Fall! Und deshalb müssen sich die Unternehmen mehr um ihre Angestellten kümmern.
Zum Beispiel, indem sie die Telearbeit fördern?
Ja, denn diese Arbeitsform ist sowohl für die Angestellten als auch für die Unternehmen von Vorteil. Ich glaube nicht, dass es einen idealen Prozentsatz an Heimarbeit gibt. Man muss jede Person und jede Funktion individuell betrachten.
Wie beurteilen Sie das Arbeitsrecht in der Schweiz?
Die Flexibilität des Arbeitsrechts ist sowohl für die Arbeitgebenden als auch für die Angestellten sehr vorteilhaft. Das ist ein echter Erfolgsfaktor der Schweiz. Diese Flexibilität bringt nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern erleichtert es auch Arbeitnehmenden, die sich an ihrem Arbeitsort nicht wohlfühlen, das Unternehmen zu wechseln.
Neben den rechtlichen Aspekten bietet die Schweiz noch weitere wichtige Vorteile: die kontinuierliche und duale Ausbildung sowie eine von Zuverlässigkeit, Pragmatismus und flachen Hierarchien geprägte Arbeitskultur.
Wo steht die Schweiz in Bezug auf die Nutzung von Technologie und Digitalisierung in der Arbeitswelt im internationalen Vergleich?
Im Allgemeinen befindet sich die Schweiz in einer guten Position. In einigen Bereichen, zum Beispiel bei E-Government oder elektronischen Krankendossiers, hat die Schweiz jedoch noch viel Verbesserungsbedarf. Der Föderalismus ist oft ein Hindernis für die Digitalisierung, weil dafür eine Standardisierung nötig ist.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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