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Nestlé hat Mühe, Kritiker von Baby-Milchpulver zu überzeugen

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Die speziell für ältere Kleinkinder konzipierte Wachstumsmilch hat laut Euromonitor im Jahr 2018 weltweit den grössten Teil des Umsatzwachstums im Milchpulvergeschäft generiert. 123rf.com

Für den Schweizer Nahrungsmittel- und Getränkekonzern Nestlé ist die Diversifizierung seines Säuglingsnahrungsangebots vielversprechend. Kritiker der Branche sind jedoch skeptisch.

Der Sohn von Lindsay Beeson bekam einige Wochen nach seiner Geburt einen Ausschlag, hatte Blut in den Windeln und litt an Durchfall und Erbrechen. Die Ärzte stellten eine Kuhmilchallergie fest.

Wie unzählige andere Mütter in ihrer Situation, verzichtete Beeson deshalb bei ihrer eigenen Ernährung auf Milch und ergänzte die Muttermilch mit hypoallergener Säuglingsanfangsnahrung. Als ihr Sohn ein Jahr alt wurde, ging sie zu einer speziell für Kleinkinder mit Allergien entwickelten Ersatzmilchnahrung über.

«Ich wusste, dass er damit die richtige Balance von Eiweiss, Fett und Vitaminen erhielt, so wie mit Kuhmilch», erklärte Beeson gegenüber swissinfo.ch. «Und es schmeckte meinem Sohn.»

Für grosse Konzerne wie Nestlé sind Produkte wie diese, die sich an ältere Kleinkinder mit Allergien, besonderen Ernährungsbedürfnissen oder einfach nur an wählerische Esser richten, der nächste Schritt beim Angebot von Ersatzmilchprodukten.

«Wir wollen uns an alle Babys richten, nicht nur an jene, die speziell entwickelte Säuglingsnahrung erhalten», sagte Thierry Philardeau, Nestlé-Ernährungschef, zu einer Gruppe von Journalisten in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Konzerns in Lausanne. «Alle Stufen, alle Babys und alle Mütter.»

Es geht also darum, Ernährungslücken für Mütter und Babys zu schliessen, unabhängig davon, ob die Kinder nur Säuglingsnahrung erhalten, oder nur gestillt werden, oder eine Mischung aus Muttermilch und Muttermilchersatz erhalten. Zwar konzentriert sich das multinationale Schweizer Unternehmen noch auf Frühgeborene und Babys mit besonderen medizinischen Bedürfnissen.

Es hat aber die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen für Produkte für Kleinkinder im Alter von über sechs Monaten angekurbelt. Ab diesem Alter reicht die Muttermilch allein nicht mehr aus, um die Ernährungsbedürfnisse eines Kindes zu decken.

Trennlinien

Was Nestlé tut, wirkt sich auf die Gesundheit von Millionen von Kindern aus. Mehr als 150 Jahre nachdem Henri Nestlé Farine Lactée entwickelt hat, ein Muttermilchersatz-Pulver zur Ernährung unterernährter Babys, ist Nestlé das grösste Unternehmen für Säuglingsnahrung weltweit, mit einem Anteil von einem Fünftel des Marktes, gefolgt von Danone.

Nachdem die steigenden Stillraten in den letzten Jahrzehnten die Gewinne aus der Säuglingsnahrung geschmälert haben, boomt nun das Geschäft mit Ersatzmilch für ältere Kinder. Dies ist zu einem grossen Teil der WachstumsmilchExterner Link zu verdanken, die laut Euromonitor 2018 den Grossteil des weltweiten Umsatzwachstums generiert hat.

In vielen Teilen der Welt sind Supermärkte inzwischen mit einem Sortiment an Pulvern und Fertigmilchprodukten und Ersatzstoffen für Kinder im Alter von über einem Jahr ausgestattet. Aber nicht alle sind glücklich über diese Produkte.

Gewisse Branchenkritikerinnen wie Patti Rundall kritisieren diese Entwicklung. Rundall ist seit den 1980er-Jahren Strategiedirektorin von Baby Milk ActionExterner Link und hat einige der grössten rechtlichen Anfechtungen gegen Nestlés Geschäft mit Ersatzmilchprodukten geleitet.

«Nestlé und Danone sind die treibenden Kräfte hinter der Entwicklung von Milchersatzfolgenahrung und Wachstumsmilch für Kinder im Alter von sechs bis 36 Monaten und gar bis zu neun Jahren», erklärt sie. «Dabei setzten sie auf das gleiche oder ein sehr ähnliches Branding wie bei der Säuglingsnahrung. Eltern sehen diese Logos und denken, dies sei eine ganze Reihe.»

Ihrer Ansicht nach sind die neuen Produkte lediglich ein Marketing-Trick. «All diese Folgemilch-, Wachstumsmilch- und Juniormilch-Produkte sind schlicht nicht notwendig», erklärt Rundall gegenüber swissinfo.ch.

«Sie sollten vom Markt genommen werden. Der ist aber derart riesig, dass niemand das tun will. Sie wissen, dass der Kodex umgangen wird.»

Damit verweist Rundall auf den Internationalen Kodex zur Vermarktung von Muttermilch-Ersatzprodukten von 1981, der Standards für verantwortungsbewusste Marketingpraktiken festlegt, einschliesslich der Beschränkungen für öffentliche Werbung, Sponsoring und Gratisproben von Säuglingsnahrung.

Grosskonzerne wie Nestlé als auch deren Kritiker einig. Unterschiedliche Ansichten zeigen sich sobald andere Nahrungsmittel und Getränke hinzugefügt werden können, also ab dem Alter von sechs Monaten oder auch später.

Dieser Zeitraum kann für Eltern besonders verwirrend sein, denn oft erhalten sie widersprüchliche Informationen von den Herstellern von Milchersatzprodukten, Ärzten und Skeptikern darüber, womit sie ihre Kinder ernähren sollten.

In einigen wissenschaftlichen StudienExterner Link wird argumentiert, dass das, was als «Wachstumsmilch» für Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren bezeichnet wird, nicht notwendig sei, aber Ernährungsmängel ausgleichen könne, insbesondere in Fällen schlechter Ernährungsgewohnheiten oder wenn bestimmte Nährstoffe in lokalen Lebensmitteln nicht verfügbar sind.

Druck der Industrie

Die Kritik an Nestlé kommt nicht von ungefähr. Vier Jahrzehnte sind vergangen, seit Aktivisten Nestlé beschuldigten, aggressive Marketingtaktiken anzuwenden, die Mütter dazu veranlassten, das Stillen zugunsten von Muttermilchersatznahrung aufzugeben.​​​​​​​

Der darauf folgende, weit verbreitete Boykott von Nestlé führte zu gewichtigen Veränderungen bei den Vermarktungspraktiken der grossen Unternehmen.

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Trotzdem beeinflusst das Marketing weiterhin die Entscheidungen von Müttern. Catherine Watt von der Genfer Sektion der La Leche LeagueExterner Link, eines Vereins zur Förderung des Stillens, sagt, dass viele Frauen früher mit dem Stillen aufhören, als sie es gerne würden.

Globale Standards für Ersatzmilchprodukte

Die Weltgesundheits-Organisation empfiehlt, dass Säuglinge innerhalb der ersten Stunde nach ihrer Geburt erstmals Muttermilch erhalten und  sechs Monate lang ausschliesslich gestillt werden. Dann soll mit der Einführung von angemessener, sicherer und ordnungsgemässer Beikost begonnen werden; zudem wird empfohlen, dass Kinder wenn möglich bis ins Alter von zwei Jahren oder darüber hinaus weiter gestillt werden.

Der Internationalen Kodex zur Vermarktung von Muttermilch-ErsatzproduktenExterner Link wurde 1981 von der Weltgesundheits-Versammlung angenommen und legt Standards für ein verantwortungsbewusstes Verhalten von Produzenten und Vertreibern bei der Vermarktung und Verkaufsförderung von Muttermilch-Ersatzprodukten fest.

2016 veröffentlichte die WHO Leitlinien zur unangemessenen Werbung für Säuglingsnahrung. Darin wird klargestellt, dass Muttermilch-Ersatzprodukte sämtliche Milchprodukte umfassten, die sich speziell an Kinder bis ins Alter von drei Jahren richten; sie seien alle denselben Beschränkungen unterstellt, wie die Ersatzmilch für Säuglinge bis ins Alter von sechs Monaten.

«Es gibt diesen heimtückischen Druck der Industrie mit all der Werbung für verschiedene Arten von Spezialnahrung und Milch», erklärt sie. «Wenn eine Mutter quälende Zweifel hat, ob sie genug Milch hat und etwas Muttermilchersatz-Pulver im Schrank hat, wird sie es einfach ausprobieren.»

In Entwicklungsländern können die Folgen verheerend sein. JP Dadhich, technischer Direktor des indischen Netzwerks zur Förderung des Stillens (Breastfeeding Promotion Network of India, BPNI), ist besonders besorgt über die hohen Kosten dieser Produkte, ihre Umweltauswirkungen und potentielle wesentliche Verunreinigungen.

«Wir können uns nicht sicher sein über die Qualität des Wassers, mit dem diese Produkte vermischt werden, was das Risiko von Durchfall bei Kindern erhöht. Zudem ist Tiermilch in Indien weit verbreitet, nach dem Abkochen sicher und kulturell akzeptiert», erklärt der Kinderarzt. «Es wäre besser für Kinder, gute lokale, ergänzende Nahrungsmittel zu essen, während sie auch nach dem sechsten Monat weiterhin gestillt werden.»

Auch die Weltgesundheits-Organisation (WHO) hat die Sorge geäussertExterner Link, dass Produkte, die speziell auf ältere Kleinkinder ausgerichtet sind, die Ernährung und das Stillen untergraben könnten. Vor allem, wenn sie ein ähnliches Branding verwenden und als bessere, mit Vitaminen oder Mineralien angereicherte Alternativen beworben werden.

Der Teufel steckt im Detail

All dies hat zu heftigen Debatten zwischen Regierungen und Unternehmenslobbyisten geführt, ob Produkte, die für die Phase nach der Zeit des ausschliesslichen Stillens (erste sechs Monate) entwickelt wurden, auch wie Muttermilchersatzprodukte reguliert werden und daher den strengen Vermarktungsbeschränkungen des Sektors unterliegen sollen.

Nestlé sagt, weiter gegangen zu sein, als viele andere Akteure der Branche: Der Konzern habe dieselben Vermarktungsbeschränkungen für Produkte anwendet, die sich an Kinder bis im Alter von einem Jahr richten, in Übereinstimmung mit den in diesem Jahr in Kraft tretenden Vorschriften der Europäischen UnionExterner Link. Einige andere würden sich dagegen nur auf Produkte für die Zeit des ausschliesslichen Stillens konzentrierten.

Nestlé lehnt aber jede weiter gehende Regelung ab. Unter Berufung auf UntersuchungenExterner Link darüber, was Kinder in vielen Ländern tatsächlich essen, argumentiert der Konzern, dass die Alternative wahrscheinlich weniger gesund sei. «Es macht keinen Sinn die Werbung für Produkte für Kinder im Alter von einem Jahr einzuschränken, wenn Coca-Cola und andere Produkte zu früh verabreicht werden und es keine Einschränkungen gibt», erklärte Philardeau.

Vertrauensdefizit

Nestlé ist sich bewusst, dass das Unternehmen angesichts der Skandale der Vergangenheit beim Betreten von Neuland vorsichtig sein muss. «Es ist nicht wie beim Verkauf von Schokolade, es besteht eine grosse Verantwortung. Wir ernähren jedes Jahr 15 Millionen Babys – das ist die Grösse der Niederlande», erklärte Philardeau.

Das Unternehmen hat seine Marketingpolitik mehrfach aktualisiert, ein System für Whistleblower eingerichtet und berichtet jährlich über die Einhaltung der Vorschriften. Im Gegensatz zur Zeit vor den 1980er-Jahren macht der Konzern auch in seiner Kommunikation sehr deutlich, dass «Stillen optimal» sei, er mit seinen Produkten aber das Nächstbeste sein wolle.

Branchenkritiker sagen, es reiche nicht aus, dass Nestlé, in Rundalls Worten, der «Beste in einem schlechten Haufen» sei. Das Unternehmen wehrt sich noch immer gegen Vorwürfe irreführender NährwertangabenExterner Link und das Sponsoring von StudienExterner Link mit Gesundheitsexperten.

Nestlé argumentiert, im Fall einer Verdrängung des Konzerns aus dem Markt würden Unternehmen mit fragwürdiger Erfolgsbilanz einspringen. Dies gilt vor allem für Länder mit einem schwachen regulatorischen Umfeld wie China, Russland und den USA, wo Mütter nicht selten kostenlose Ersatzmilchprodukte zugeschickt erhalten, was selbst Nestlé beklagt. Laut WHO gibt es in 58 Ländern bis heute keine Gesetze, welche die Vermarktung von Säuglingsnahrung einschränken.

«Ich will diese Geschichte von Nestlé als Babykiller hinter uns bringen», sagte Philardeau. «Lasst uns voranschreiten, aber nicht vergessen, was passiert ist. Wir haben unsere Lektion gelernt und wir haben uns verändert. Ich möchte in die Zukunft blicken und nicht bestraft werden, wenn wir mehr tun als viele andere Leute.»

Wörterverzeichnis zu Säuglingsnahrung

Säuglingsanfangsnahrung: Muttermilchersatzprodukte, die speziell hergestellt werden, um die Ernährungsbedürfnisse von Säuglingen in ihren ersten Lebensmonaten zu decken.

Folgenahrung oder Folgemilch: Eine Nahrung, die als flüssiger Teil während der Entwöhnungsperiode für Säuglinge ab dem sechsten Lebensmonat und/oder als Beikost für Kleinkinder (12-36 Monate) bestimmt ist. Es sind Lebensmittel, die aus der Milch von Kühen oder anderen Tieren und/oder aus anderen Bestandteilen tierischen und/oder pflanzlichen Ursprungs hergestellt werden.

Wachstums- oder Kleinkindermilch: Solche Milch und ähnliche Produkte richten sich an Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren, und sind in der Regel ein Ersatz für Kuhmilch; sie umfassen unter anderem Getränke auf Basis von Kuh-, Ziegen- oder Schafmilch oder aus Soja, Reis, Hafer oder Mandeln. Quelle: Codex

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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