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Babynahrung: WHO wirft Firmen manipulatives Marketing vor

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Der Schweizer Lebensmittelriese Nestlé ist neben Danone, Abbott und Reckitt einer der grössten Hersteller von Babynahrung weltweit. © Keystone / Gaetan Bally

Um Babynahrung zu verkaufen, infiltrierten Hersteller Facebook-Gruppen und manipulierten medizinisches Personal. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der WHO und UNICEF. Expert:innen fordern strengere Regulierungen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF werfen Herstellern von Babynahrung in einem neuen BerichtExterner Link unethisches und irreführendes Marketing vor. Der Report basiert auf einer internationalen Befragung von rund 8500 Eltern und Müttern sowie 300 Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen.

Nicht nur das Ausmass des Marketings sei problematisch, sagte WHO-Wissenschaftler und Mitautor Nigel Rollins an einer Pressekonferenz. Ebenso alarmierend sei die Art und Weise, wie versucht werde, «Ängste und Emotionen zu schüren und die Mütter und Väter in einer Zeit auszunutzen, in der sie am verletzlichsten sind.»

Die WHO empfiehlt, dass Säuglinge während der ersten sechs Lebensmonaten ausschliesslich gestillt werden, danach soll Breikost das Stillen ergänzen. Aggressive und unethische Vermarktung von Muttermilch-Ersatzprodukten würde das Stillen untergraben, kritisiert die WHO.

Irreführende Werbung, kostenlose Proben und das Sponsoring von «Mum Influencers» in den sozialen Medien sind gemäss des 1981 verabschiedeten Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten verboten. Die Richtlinien entstanden nach einem Skandal in den 70er-Jahren, als Nestlé für sein aggressives Marketing, das viele Frauen dazu brachte, Stillen zugunsten von Ersatzprodukten aufzugeben, in die Schlagzeilen geriet. Das Unternehmen wurde daraufhin mit einem Boykott belegt.

In dem neuen Bericht wird kein Unternehmen namentlich genannt. Doch die Tragweite des Problems gibt Forderungen nach verbindlichen Vorschriften und härteren Sanktionen für die gesamte Branche Auftrieb. Nur 25 Staaten haben Gesetze, welche den Kodex in seiner Gesamtheit abdecken. Die Schweiz gehört nicht dazu, ebenso wenig die beiden grössten Märkte China und USA.Unerbittliches Marketing

Modernes Marketing in den sozialen Medien sowie digitale Tools hätten das Problem noch verstärkt, argumentiert die WHO. So nutzen die Unternehmen Datenalgorithmen, um Mütter über Beratungsstellen, Babyclubs und Telefon-Apps sowie über soziale Medien massgeschneidert und gezielt anzusprechen. «Frauen werden auf Websites geführt, auf denen sie Informationen erhalten, die alles andere als objektiv sind», sagte UNICEF-Ernährungsberaterin Grainne Moloney.

Gemäss der Umfrage, welche vom Kommunikationsunternehmen M&C Saatchi in acht Staaten auf fünf Kontinenten erhoben wurde, waren rund 51 Prozent der Eltern und schwangeren Frauen mit Werbung von Muttermilchherstellern konfrontiert. Frauen im städtischen China waren am stärksten betroffen (97%), die Werte für Vietnam und Grossbritannien liegen knapp dahinter (92% bzw. 84%).

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Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, Neugeborene in den ersten sechs Monaten ausschliesslich zu stillen. © Keystone / Gaetan Bally

Im Bericht wird vor allem die Irreführung in den Werbebotschaften angeprangert. Da Säuglingsnahrung als Lebensmittel und nicht als Medizin reguliert wird, verlangen die Behörden vieler Staaten kaum wissenschaftliche Belege für bestimmte Werbeaussagen in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen. «So genannte Formula-Milch wird als der Muttermilch ähnlich, gleichwertig und manchmal sogar überlegen dargestellt», heisst es im Bericht. Aber diese Behauptungen seien wissenschaftlich nicht belegt.  

Und so verwundert es nicht, dass die Rate des ausschliesslichen Stillens während der letzten 20 Jahre zwar leicht gestiegen ist, aber immer noch bei 44 % und damit unter dem globalen Ziel von 50 % bis 2025 liegt, wie in einem Artikel des Fachjournals «The Lancet» steht. Parallel dazu hat sich der Absatz von Säuglingsnahrung zwischen 2005 und 2019 mehr als verdoppelt, wie eine andere Studie aufzeigt.

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Keine verbindlichen Regeln

Ein entscheidendes Problem bleibt die uneinheitliche Auslegung und Anwendung des Kodex. 2020 schloss sich die WHO mit mehreren NGOs zusammen, um gemeinsam Unternehmen dazu zu bringen, sich stärker daran zu halten. Nur zwei Unternehmen, Kraft-Heinz und Meiji, die nur 1% des Weltmarktes ausmachen, erklärten sich dazu bereit.

«Die Unternehmen halten sich nur an die Teile des Kodex, die ihnen passen», sagt WHO-Wissenschaftler Nigel Rollins. «Unsere und andere Untersuchungen zeigen, dass sich kein Unternehmen vollständig an die Richtlinien hält.»

Laut Zahlen der Access to Nutrition Initiative gehen die Konzerne ganz unterschiedlich mit den Regeln um. Von den sieben untersuchten Unternehmen steht Danone an erster Stelle: Ihre Marketingpolitik deckt sich zu 68% mit den Regeln, gefolgt von Nestlé mit 57%. Die drei chinesischen Unternehmen auf der Liste – Feihe, Mengniu und Yili – machten keine Angaben zu ihrer Umsetzung.  

Unterschiede finden sich vor allem bei der Frage, wie die Regeln bei Kleinkindern, die über 12 Monate alt sind, bestimmten Länder oder Produktarten angewendet werden sollen. Die Marketingpolitik des Markführers Nestlé orientiert sich am Kodex, stimmt aber nicht eins zu eins mit ihm überein. Das Schweizer Unternehmen hat sich jedoch verpflichtet, bis Ende 2022 in allen Ländern die Werbung für Babynahrung für Säuglinge, die zwischen null bis sechs Monate alt sind, einzustellen.

Die Gesetze ändern

Patti Rundall ist seit den 80er-Jahren politische Direktorin der NGO Baby Milk Action. Sie ist überzeugt, dass Unternehmen ohne gesetzliche Verankerung des Kodex weiterhin selektiv vorgehen werden. «Wir haben es hier mit grossen transnationalen Unternehmen zu tun – nur Gesetze helfen», sagt sie und betont: Die Gesundheit von Menschen stehe auf dem Spiel.

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Der Markt für Babynahrungsmittel wird auf rund 55 Milliarden Dollar geschätzt. In Ländern wie Indien, wo die Vermarktung von Säuglingsnahrung besonders streng reguliert wird, ist der Absatz konstant geblieben. In China hingegen ist er sprunghaft angestiegen und macht inzwischen etwa die Hälfte (28 Milliarden Dollar) des Gesamtmarktes aus. Für das Jahr 2021 hat China ein Verbot der Vermarktung von Säuglingsnahrung in Gesundheitseinrichtungen vorgeschlagen.

Die USA, der zweitgrösste Markt, gehören zu den 58 Ländern, in denen es keinerlei Vorschriften gibt. «Es gibt einige multinationale Unternehmen, darunter Nestlé, die auf freiwilliger Basis sehr viel strengere Vermarktungspraktiken eingeführt haben, als gesetzlich vorgeschrieben sind», sagt Marie Chantal Messier, Leiterin der Abteilung für Lebensmittel- und Industrieangelegenheiten bei Nestlé.  «Um die Situation zu verändern, müssen in allen Ländern, die noch keine nationalen Gesetze haben, Vorschriften erlassen werden.»  

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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